Putins Krieg gegen die Wahrheit
Westliche Kriegslügen sind in den alternativen Medien wohlbekannt, doch Russlands Kriegspropaganda wird so gut wie gar nicht hinterfragt – damit ist jetzt Schluss.
An der Propagandafront steht Russland dem Westen in nichts nach. Olga Skabejewa, Moderatorin der beliebtesten politischen Talkshow im russischen Staatsfernsehen, gab explizit zu, Propaganda für die russische Regierung zu machen. Sie nennt dies „Common Sense Propaganda, Propaganda der Interessen deines Staates, auch wenn es sich um eine aggressive Durchsetzung der Interessen deines Landes handelt“, denn „wenn wir uns als Patrioten betrachten, ist es besser, dem Standpunkt des Staates zu folgen und für den Staat zu arbeiten“. Zudem nutzt der Kreml KI-gestützte Bots in den sozialen Medien, die wie Profile realer Personen aussehen und Propaganda im Sinne der russischen Regierung verbreiten.
In diesem Artikel werden Propagandalügen des Westens sowie der ukrainischen und der russischen Regierung entlarvt. Dabei zeigt sich: Kein Staat hat die Wahrheit für sich gepachtet, und die Menschen tun gut daran, Kriegspropaganda zu hinterfragen, egal woher sie kommt.
In fünf Abschnitten liegt der Fokus auf den Ereignissen zwischen der ukrainischen Unabhängigkeit 1991 und dem russischen Großangriff auf die Ukraine 2022.
Die Ukraine nach dem Fall der Sowjetunion
Sowohl Russland als auch der Westen haben politische Gruppen im Ausland finanziert, um ihre geopolitischen Interessen durchzusetzen. In der Ukraine liefern sich beide ein Tauziehen. Die Ukraine liegt zwischen Russland und der EU und ist reich an fruchtbaren Böden, Erdgas und seltenen Erden. Doch trotz reichhaltiger Ressourcen leiden die Ukrainer seit langem unter einem niedrigen Lebensstandard, bedingt nicht zuletzt durch weit verbreitete Korruption.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1991 verblieb die Ukraine weitgehend im Einflussbereich Russlands, wobei die Ukraine ein Militärbündnis mit dem Westen anstrebte, um eine erneute russische Vorherrschaft zu verhindern. 1994 trat die Ukraine dem NATO-Programm „Partnerschaft für den Frieden“ bei, das die Zusammenarbeit zwischen der NATO und potenziellen neuen Mitgliedern stärken soll. Russland versuchte seinerseits, mit Hilfe des 1996 gegründeten Instituts für Diaspora und Integration (später umbenannt in Institut der GUS-Staaten) seinen Einfluss auf die Ukraine und andere postsowjetische Staaten auszubauen. Die ukrainischen Behörden untersagten dem Gründer des Instituts, Konstantin Zatulin, wiederholt die Einreise in die Ukraine aufgrund seiner Versuche, die ukrainische Souveränität zu untergraben.
1997 unterzeichnete der ukrainische Präsident Leonid Kutschma zum einen die NATO-Ukraine-Charta über eine besondere Partnerschaft und zum anderen den russisch-ukrainischen Freundschaftsvertrag, in dem die Präsidenten Russlands und der Ukraine ihr Bekenntnis zu einer strategischen Partnerschaft und zur Achtung der gegenseitigen territorialen Integrität bekräftigten. Für Russland bedeutete eine strategische Partnerschaft mit der Ukraine offenbar russische Dominanz, wie Russlands Präsident Boris Jelzin 1999 klarstellte. Gegenüber US-Präsident Bill Clinton verkündete Jelzin, Russland wolle die USA als dominierende Macht in Europa ablösen. Jelzin sagte: „Ich bitte Sie um eine Sache. Geben Sie Europa einfach an Russland.“ Clinton wandte ein: „Ich glaube nicht, dass dies den Europäern besonders gut gefallen würde.“ Jelzin antwortete: „Nicht allen. Aber ich bin Europäer. Ich lebe in Moskau. Moskau liegt in Europa und ich mag es. Sie können alle anderen Staaten nehmen und ihnen Sicherheit verschaffen. Ich werde Europa nehmen und ihm Sicherheit verschaffen. Nun, nicht ich. Russland wird das tun.“ Kutschma hatte jedoch offensichtlich andere Pläne, als er auf einem NATO-Gipfel im Jahr 2002 die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine zum strategischen Ziel seines Landes erklärte.
Bei den ukrainischen Präsidentschaftswahlen 2004 setzte sich Viktor Janukowitsch von der pro-russischen Partei der Regionen in einer hart umkämpften Stichwahl gegen den pro-westlichen Kandidaten Viktor Juschtschenko durch, der nur wenige Monate vor der Wahl knapp einen Giftanschlag überlebt hatte. Janukowitschs Sieg war mutmaßlich das Ergebnis von Wahlbetrug, was eine Reihe von Protesten auslöste, die Orangene Revolution. Die vom Westen geförderten Proteste führten zu Neuwahlen, die Janukowitsch verlor. Als Reaktion auf Juschtschenkos Wahlsieg förderte Russland den Separatismus in russischsprachigen Regionen der Ukraine wie dem Donbas, einem wichtigen Industriezentrum an der Grenze zu Russland.
Konstantin Skorkin von der in Lettland ansässigen russischen (aber in Russland verbotenen) Nachrichtenseite Meduza schrieb hierzu:
[D]ie russischen Behörden reagierten zweifellos hart auf die Orangene Revolution und waren offenbar überrascht, dass die Ukraine, die viele als „brüderliche Nation“ betrachteten, wirklich einen von Russland unabhängigen Staat wollte. […]
Als nach der Orangenen Revolution radikale Separatistenorganisationen im Donbas auftauchten, waren ihre Unterstützungsquellen immer häufiger in Moskau zu finden. Der Forscher Wladimir Peschkow schrieb: „Mehrere Zeitungen und Zeitschriften tauchten aus dem Nichts auf, aber jeder wusste, dass sie von Moskau finanziert wurden. Etwa zur gleichen Zeit nahmen neue Nichtregierungsorganisationen mit unklarem Ursprung ihre Tätigkeit auf. Diese wurden von Russland aus von der Internationalen Eurasischen Bewegung unter der Leitung des Chefideologen Alexander Dugin geführt.“ Zu dieser Zeit entstanden auch Ausbildungslager, in denen separatistische Aktivisten im Umgang mit Waffen geschult wurden.
Neben der Förderung radikaler Gruppierungen fand eine eher „seriöse“ Indoktrination der lokalen Bevölkerung statt. In [den Donbas-Hauptstädten] Luhansk und Donezk gab es ständig runde Tische und Konferenzen über die Bedrohung durch den „ukrainischen Faschismus“, die Aussichten auf eine Föderalisierung des Landes und den Schutz der russischsprachigen Bevölkerung. Die lokalen Medien berichteten aktiv über all diese Themen. Das vom russischen Staat geförderte Institut der GUS-Staaten spielte bei der Organisation dieser Veranstaltungen eine wichtige Rolle. Das Institut, das sich selbst als Denkfabrik positionierte, arbeitete daran, die Idee zu verbreiten, dass Russland den postsowjetischen Raum dominieren sollte.
2007 nahmen Präsident Juschtschenko und die EU Verhandlungen über ein Assoziierungsabkommen auf. Auf einem NATO-Gipfel im Jahr 2008 ersuchte Juschtschenko offiziell um einen Aktionsplan zur Mitgliedschaft. Die NATO begrüßte den Antrag der Ukraine, ohne einen konkreten Zeitrahmen für den Beitritt festzulegen. Russlands Präsident Wladimir Putin reagierte trotzig auf die ukrainischen NATO-Bestrebungen. Er stellte die nationale Einheit der Ukraine in Frage und drohte mit der Annexion erheblicher Teile des ukrainischen Territoriums.
Die russische Tageszeitung Kommersant berichtete übereinstimmend mit anderen Quellen:
Am vergangenen Wochenende fassten die Teilnehmerstaaten des NATO-Gipfels in Bukarest die Ergebnisse zusammen. […] [I]n Kyjiw überlegten sie, wie sie auf die Warnung von Wladimir Putin reagieren sollten, der […] andeutete, dass die Ukraine aufhören könnte, als eigenständiger Staat zu existieren, wenn sie dem Bündnis beitritt. […]
[E]ine Kommersant-Quelle aus der Delegation eines der NATO-Länder sagte: „Aber als es um die Ukraine ging, ist Putin ausgerastet. An [US-Präsident] Bush gewandt, sagte er: ‚Sie wissen, George, dass die Ukraine nicht mal ein Land ist! Was ist die Ukraine? Ein Teil ihres Territoriums gehört zu Osteuropa, und ein Teil davon, ein großer Teil davon, war ein Geschenk von uns!‘ Und dann deutete er ganz offen an, dass, wenn die Ukraine in die NATO aufgenommen würde, das Land einfach aufhören würde zu existieren. […] [Putin] drohte damit, dass Russland damit beginnen könnte, der Ukraine die Krim und die Ostukraine wegzunehmen.“
Die Halbinsel Krim ist die namensgebende Heimat der Krimtataren, eines Turkvolkes, das die Krim ab dem 15. Jahrhundert dominierte. Im Jahr 1783 wurde die Krim vom Russischen Kaiserreich annektiert, das verschiedene Formen der Diskriminierung der Krimtataren legalisierte. Dennoch blieben diese bis zum Ende des 19. Jahrhunderts die größte ethnische Gruppe auf der Krim. 1944 wurden sie zusammen mit anderen Nicht-Russen wie Armeniern, Griechen und Bulgaren im Rahmen eines sowjetischen Zwangsumsiedlungsprogramms vollständig von der Krim vertrieben. Seitdem waren die meisten Krimbewohner stets Russen. 1954 machte die sowjetische Führung in Moskau die Krim zur südlichsten Provinz der Ukraine, offenbar im Bestreben, die Ukraine durch eine neue russische Provinz zu russifizieren.
Die Ostukraine war das Zentrum des anarchistischen antisowjetischen Widerstands während des sowjetisch-ukrainischen Kriegs von 1917-1921, den die Sowjets gewannen. Die letzten Reste des Widerstands in dieser Region wurden während des Holodomor (Ukrainisch: hólod = Hunger; morýty = ausrotten) dezimiert, einer politisch verursachten Hungersnot von 1932 bis 1933, der Millionen Ukrainer zum Opfer fielen, insbesondere in der Südostukraine. In der Folgezeit setzte Moskau die Russifizierung der Region fort.
Die globale Finanzkrise von 2007 traf auch die ukrainische Wirtschaft, was Viktor Janukowitsch bei den Wahlen 2010 zum Sieg über Amtsinhaber Viktor Juschtschenko verhalf. Janukowitsch präsentierte sich im Wahlkampf als gemäßigter Politiker, der für eine neutrale Ukraine eintrat, die mit der EU, der NATO und Russland assoziiert, aber von diesen unabhängig sein sollte. 2011 gründeten die Ukraine, Russland und Weißrussland die Freihandelszone der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten. Gleichzeitig strebte Janukowitsch ein Assoziierungsabkommen mit der EU an.
2012 gab die Eurasische Jugendunion, die Jugendorganisation der russisch-imperialistischen Internationalen Eurasischen Bewegung, bekannt, dass die soziale Bewegung „Donezker Republik“ eine Botschaft in der Zentrale der Jugendunion in Moskau eröffnet hat. Die „Donezker Republik“ hatte nur wenig Unterstützung in der Ukraine und wollte eine russische Annexion aller südöstlichen Provinzen der Ukraine, also fast die Hälfte des Landes, deutlich mehr als die aktuell von Russland besetzten Gebiete. Die Jugendunion erklärte, die Eröffnung der Botschaft werde „zur Stärkung der Beziehungen zwischen den Bewohnern der Donezker Republik und dem übrigen Russland sowie zur Wiedervereinigung der 1991 künstlich getrennten Gebiete des historischen Russlands beitragen“. 1991 feierte die Ukraine ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion, deren Auflösung Putin 2005 als „bedeutende geopolitische Katastrophe des [20.] Jahrhunderts“ bezeichnete, obwohl die Sowjetunion ein totalitärer Staat war. Allein im Zuge der Revolution zur Gründung der Sowjetunion wurden 8 bis 12 Millionen Russen ermordet, später kamen Millionen ermordete Oppositionelle hinzu.
Während in Russland Pläne zur Annexion der Südostukraine geschmiedet wurden, äußerte der EU-Rat für Auswärtige Angelegenheiten die Hoffnung, dass auf dem EU-Gipfel zur östlichen Partnerschaft im November 2013 ein Assoziierungsabkommen mit der Ukraine unterzeichnet wird, sofern die Ukraine Wahl-, Justiz- und Verfassungsreformen durchführt. Im Februar 2013 verpflichtete sich die Ukraine zur Umsetzung dieser Reformen. EU-Präsident Barroso erklärte jedoch, dass die Ukraine nicht gleichzeitig einer Zollunion mit Russland beitreten und engere Beziehungen zur EU aufbauen könne. Ein Assoziierungsabkommen mit der EU hätte der Ukraine somit den Beitritt zur Eurasischen Zollunion verwehrt, die 2010 von Russland, Belarus und Kasachstan gegründet wurde.
Als sich die Ukraine im Sommer 2013 auf die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU vorbereitete, griff Russland die ukrainische Wirtschaft mit Handelsbeschränkungen an, die auch die wichtigsten Exportgüter der Ukraine, Stahl und landwirtschaftliche Erzeugnisse, betrafen. Russland war der größte Handelspartner der Ukraine, doch der wirtschaftliche Druck hielt die ukrainischen Gesetzgeber nicht davon ab, den Entwurf des Assoziierungsabkommens zu genehmigen.
Putins Berater Sergej Glasjew erklärte, dass ein ukrainisches Assoziierungsabkommen mit der EU den russisch-ukrainischen Freundschaftsvertrag von 1997 verletzen würde und deutete an, dass Russland im Falle einer Unterzeichnung militärisch eingreifen könnte, falls sich pro-russische Regionen des Landes direkt an Moskau wenden. Im September 2013 ernannte Putin seinen Chefideologen Wladislaw Surkow zum Leiter des russischen Programms für hybride Kriegsführung zur Russifizierung der Ukraine. Surkows Aktivitäten wurden später durch russische Kräfte in der Ukraine, durch offensichtliche Entwicklungen vor Ort sowie durch Surkows interne E-Mails offengelegt, die 2016 von der ukrainischen Hackergruppe CyberHunta veröffentlicht wurden.
Alya Shandra und Robert Seely vom britischen Royal United Services Institute schrieben hierzu:
Russlands Aktivitäten in der Ukraine sind eine Neuerfindung der „aktiven Maßnahmen“, einer Form der politischen Kriegsführung, bei der die Sowjetunion Pionierarbeit geleistet hat. Die Strategie für diese aktiven Maßnahmen ist eng mit einem Konzept verknüpft, das als „reflexive Kontrolle“ bekannt ist, einer sowjetischen streng geheimen Technik zur Manipulation eines Gegners, damit dieser Entscheidungen trifft, die zu seiner eigenen Niederlage führen. […] [D]er Kreml erforschte akribisch die Feinheiten des ukrainischen Alltags, um die ukrainische Weltanschauung zu verstehen und Schwachstellen zu identifizieren, die ausgenutzt werden können. Dann schuf er mit Hilfe von Medien, Tarnorganisationen, Provokateuren und bezahlten Kundgebungen eine virtuelle Realität, um die Ukraine zu Entscheidungen zu zwingen, die russischen Zielen dienen. […]
Die E-Mails enthüllen die Details der täglichen Operationen Russlands zur Destabilisierung der Ukraine. Sie beschreiben insbesondere, wie der Kreml die Schwächen der Ukraine erforschte, „Insider“ suchte, die dabei helfen konnten, solche Schwächen sowie lokale Gruppen zu identifizieren, die dabei helfen würden, diese Schwächen auszunutzen, und heimlich Programme finanzierte, die darauf abzielten, die Ukraine zu spalten. Er unterstützte lokale Gruppen, die im Wesentlichen Zuschussanträge für Aktivitäten eingereicht hatten, die bestehende Konflikte verschärfen und neue hervorrufen, Proteste anregen, Angst, Verwirrung und Misstrauen verbreiten und unter dem Deckmantel vorgetäuschter zivilgesellschaftlicher Aktivitäten die Illusion einer Unterstützung der ukrainischen Bevölkerung für den Föderalismus und/oder Russland erzeugen sollten. Die E-Mails deuten darauf hin, dass der Kreml und seine Agenten eng mit den „Zuschussempfängern“ zusammenarbeiteten, den Erfolg der einzelnen Maßnahmen analysierten und künftige Pläne je nach Entwicklung der Situation änderten.
Viele in Janukowitschs Partei der Regionen unterhielten wirtschaftliche und politische Beziehungen zu Russland. Im November 2013 trafen Janukowitsch und weitere führende Mitglieder seiner Partei mit Vertretern der russischen Regierung zusammen. Daraufhin erklärte Janukowitsch, dass er die Vorbereitungen für die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU aufgrund von Bedenken hinsichtlich des Handels mit Russland aussetzen werde. Er schlug außerdem trilaterale Gespräche zwischen der Ukraine, Russland und der EU vor.
Euromaidan
Am selben Tag, dem 21. November 2013, begannen vom Westen unterstützte Aktivisten die Euromaidan-Proteste gegen Präsident Janukowitsch, gegen die weit verbreitete Korruption und für ein Assoziierungsabkommen mit der EU. Zehntausende kamen zu den täglichen Protesten, was beachtlich war, aber weniger als während der Orangenen Revolution von 2004. Während sich der Euromaidan in Kyjiw versammelte, nahm Janukowitsch am EU-Gipfel zur östlichen Partnerschaft in Litauen teil, wo er für trilaterale Gespräche und finanzielle Hilfen für die Ukraine plädierte. Die EU weigerte sich jedoch, mit Russland zu verhandeln und bot lediglich 610 Millionen Dollar an, während die Ukraine 160 Milliarden Dollar über drei Jahre gefordert hatte.
Der EU-Gipfel endete am 29. November. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich nur noch wenige hundert Menschen auf dem Euromaidan. Die Proteste waren abgeflaut und hätten sich vermutlich mit der Zeit aufgelöst, doch am frühen Morgen des 30. November vertrieb die Polizei die wenigen verbliebenen Demonstranten mit äußerster Brutalität. Diese unprovozierte Aggression einte die Opposition und bestärkte die Ukrainer, auf die Straße zu gehen. In den folgenden Monaten schlossen sich Hunderttausende dem Euromaidan an und besetzten sogar das Rathaus.
Gewaltsame Zusammenstöße zwischen Polizei und Demonstranten häuften sich. Die Regierung versuchte, die Opposition zu beschwichtigen, doch die Spannungen eskalierten nach dem 17. Dezember, als Putin und Janukowitsch vereinbarten, dass Russland ukrainische Staatsanleihen im Wert von 15 Milliarden Dollar kaufen und den Preis für Gasexporte in die Ukraine um ein Drittel senken würde. Obwohl die Vereinbarung für die Ukraine vorteilhaft schien, wollten die Demonstranten eine engere Anbindung an die EU und nicht an Russland.
Als die Unruhen weitergingen, wurden am 16. Januar 2014 unter Verletzung mehrerer Verfahrensregeln drakonische Anti-Protest-Gesetze durchs Parlament gepeitscht. Am darauffolgenden Wochenende versammelten sich erneut Zehntausende in Kyjiw. Drei Aktivisten wurden durch Schüsse getötet, ein weiterer wurde kurz nach seiner Entführung tot aufgefunden. Einige Politiker der regierenden Partei der Regionen rechtfertigten die Morde, während andere sie verurteilten und Provokateure oder Extremisten dahinter vermuteten.
Als die Demonstranten immer mehr öffentliche Gebäude besetzten, trat der Premierminister am 28. Januar zurück. Präsident Janukowitsch hob die meisten der Anti-Protest-Gesetze auf und bot an, die Verfassung zu ändern, um die Befugnisse des Präsidenten einzuschränken. Außerdem schlug er vor, den Oppositionsführer Arsenij Jazenjuk zum Premierminister zu ernennen. Die Opposition bestand jedoch auf vorgezogenen Neuwahlen und dem Rücktritt Janukowitschs.
In den folgenden Wochen kam es zu Ausschreitungen in einem Ausmaß, wie sie die unabhängige Ukraine noch nicht erlebt hatte. Insgesamt war das Land jedoch gleichmäßig zwischen Anhängern und Gegnern des Euromaidan aufgeteilt. Regional gab es große Unterschiede. Die Bevölkerung im Nordwesten, einschließlich der Hauptstadt Kyjiw, unterstützte die Proteste überwiegend, während die Südostukrainer die Proteste mehrheitlich ablehnten.
Die Lage schien sich zu beruhigen, als die Regierung am 14. Februar 234 Demonstranten aus der Haft entließ. Zwei Tage später beendeten die Demonstranten im Austausch für eine Amnestie ihre Besetzung des Rathauses und anderer Regierungsgebäude. Sie räumten auch die wichtigsten Straßensperren, besetzten aber weiterhin den Maidan (Ukrainisch: Majdan Nesaleschnosti = Platz der Unabhängigkeit).
Unmittelbar auf diese Deeskalation folgte die sogenannte Revolution der Würde, die zum Sturz von Präsident Janukowitsch führte. Am 17. Februar, als sich die ukrainischen Oppositionsführer mit Bundeskanzlerin Merkel in Berlin trafen, kündigte Russland an, weitere 2 Milliarden Dollar in die Ukraine zu pumpen. Es handelte sich um die zweite Tranche des im Dezember vereinbarten Hilfspakets, nachdem Russland die Zahlungen im Januar wegen der anhaltenden Unruhen in der Ukraine eingestellt hatte. Angesichts dieser erneuten Verstrickung mit Russland und aufgrund der Tatsache, dass Janukowitsch weiterhin an der Macht war, die Verfassung noch immer nicht geändert wurde und vorgezogene Neuwahlen nicht in Sicht waren, riefen die großen Oppositionsbündnisse für den folgenden Tag zu einem Marsch auf das Parlament auf.
Am 18. Februar 2014 marschierten Zehntausende auf das Parlament, während Oppositionspolitiker erfolglos für eine Verfassungsänderung plädierten. Die Zusammenstöße auf der Straße wurden schnell gewalttätig. Die Demonstranten setzten die Parteizentrale der Partei der Regionen in Brand und besetzten erneut das Rathaus. Auch in mehreren Provinzen, vor allem im Nordwesten der Ukraine, wurden Verwaltungsgebäude besetzt, und das Parlament der Provinz Lwiw erklärte sich für unabhängig von der Zentralregierung. Die Regierung in Kyjiw ging mit Spezialeinheiten und angeheuerten Schlägern, sogenannten Tituschki, gegen die Demonstranten vor. Insgesamt wurden bei den Zusammenstößen mindestens 25 Menschen getötet, darunter 10 Polizisten.
Am 19. Februar errichteten die Behörden in Kyjiw Polizei-Checkpoints und stellten den öffentlichen Nahverkehr teilweise ein, um zu verhindern, dass sich weitere Menschen den Protesten anschließen. Russland stellte seine Finanzhilfe für die Ukraine erneut ein, unterstützte die Regierung jedoch mit einer Flugzeugladung nicht-tödlicher Waffen und Munition zur Aufstandsbekämpfung. Der ukrainische Geheimdienst kündigte eine Anti-Terror-Operation in Zusammenarbeit mit dem Verteidigungsministerium, dem Innenministerium, den Provinzregierungen und dem Grenzschutz an. Bei einem nächtlichen Treffen mit Janukowitsch stimmten die Oppositionsführer einem Waffenstillstand zu. Janukowitsch erklärte daraufhin den folgenden Tag, den 20. Februar, zum Trauertag für die bei den Demonstrationen Getöteten.
Trotz des Waffenstillstandsabkommens sollte der 20. Februar der blutigste Tag der Proteste werden. Noch vor dem Morgengrauen waren die ersten Schüsse zu hören, für die sich jedoch keine Seite verantwortlich zeigte. Um 5:30 Uhr meldeten Spezialeinheiten der Polizei Schüsse aus dem von der Opposition gehaltenen Musikkonservatorium. Um 9 Uhr befand sich die Polizei auf dem Rückzug, nachdem mehrere Polizisten von Scharfschützen getroffen wurden. Die Anführer des Euromaidan ermutigten die Demonstranten daraufhin, Boden gutzumachen. Sie gewannen die volle Kontrolle über den Maidan zurück und errichteten Barrikaden, gerieten aber ebenfalls unter Beschuss. Die meisten Schüsse kamen aus Gebäuden, die von der Opposition kontrolliert wurden. Es scheint, dass die Demonstranten von denselben Scharfschützen erschossen wurden, die auch auf die Polizei geschossen hatten. Insgesamt wurden an diesem Tag 49 Demonstranten getötet, die meisten von ihnen zwischen 9 und 10 Uhr.
Zwei Monate nach dem Massaker behauptete der ehemalige georgische General Tristan Zitelaschwili, dass georgische Scharfschützen beteiligt waren. Dies wurde 2017 von drei Georgiern gegenüber dem italienischen Sender Canale 5 bestätigt. Koba Nergadse, Alexander Rewasischwili und Kwarateskelia Salogi sagten, dass sie dafür bezahlt wurden, am 20. Februar 2014 auf Polizisten und Demonstranten zu schießen. Sie sollen Anweisungen von einem ehemaligen Scharfschützen der US-Armee, Brian Christopher Boyenger, sowie von den ukrainischen Politikern Andrij Parubij und Sergej Paschinski erhalten haben. Forensische Beweise deuten auf die gleichen Politiker sowie auf ein geheimes extremistisches Netzwerk unter den Euromaidan-Demonstranten, das mit dem Rechten Sektor verbunden ist – einer Koalition militanter Ultranationalisten, die den Waffenstillstand vom 19. Februar nicht akzeptiert hatten.
Der ukrainische Politikwissenschaftler Iwan Katschanowski analysierte die forensischen Beweise des Maidanmassakers, insbesondere Fotos, Videos und Zeugenaussagen. Er schrieb:
[D]as Massaker auf dem Maidan am 20. Februar 2014 verlief mit Beteiligung rechtsextremer und oligarchischer Parteien, und es war ein Schlüsselelement des gewaltsamen Sturzes der korrupten und oligarchischen, aber demokratisch gewählten Regierung in der Ukraine. […]
[B]ewaffnete Gruppen und die Führung rechtsextremer Organisationen wie der Rechte Sektor und Swoboda sowie oligarchische Parteien wie Vaterland waren direkt oder indirekt in verschiedenen Funktionen an diesem Massaker an den Demonstranten und der Polizei beteiligt. Dieser Massenmord war eine erfolgreiche Operation unter falscher Flagge, die von Elementen der Maidan-Führung und verdeckten bewaffneten Gruppen organisiert und durchgeführt wurde, um den asymmetrischen Konflikt während des Euromaidan zu gewinnen und die Macht in der Ukraine zu übernehmen. […] Die genaue Art und das Ausmaß der Beteiligung jeder dieser politischen Organisationen sowie bestimmter Führer und bewaffneter Demonstranten bleibt jedoch unklar. Ein solches Massaker unter falscher Flagge kann naturgemäß nur von einer kleinen Zahl von Maidan-Führern und Demonstranten organisiert und erfolgreich durchgeführt worden sein. Die absolute Mehrheit der Maidan-Demonstranten, Aktivisten, Mitglieder und Unterstützer der Euromaidan-Massenproteste und der Parteien, die diese Proteste anführten, einschließlich der Opfer unter den Demonstranten, hatten keine Kenntnis von den tatsächlichen Organisatoren und Tätern dieser politisch motivierten Morde und waren auch in keiner anderen Weise an diesem Massenmord beteiligt. […]
Die Analyse der Umstände, der Zeitpunkte und der Orte, an denen 49 Demonstranten getötet wurden, zeigt, dass fast alle von den vom Maidan-kontrollierten Gebäuden und Orten aus getötet wurden, insbesondere vom Hotel Ukraine und dem Oktober-Palast. Diese Studie präsentiert direkte Beweise wie Videos, Fotos und Zeugenaussagen über Gruppen von Maidan-Scharfschützen in diesen Gebäuden und deren Schüsse von diesen Positionen in Richtung der Demonstranten zur gleichen Zeit, als die Demonstranten aus diesen Richtungen mit Waffen desselben Kalibers und derselben Art getötet und verwundet wurden. […]
[D]ieser Massenmord beendete nicht nur viele Menschenleben, sondern untergrub auch die Demokratie, die Menschenrechte und die Rechtsstaatlichkeit in der Ukraine. Das Massaker an den Demonstranten und der Polizei war ein wesentlicher Bestandteil des gewaltsamen Umsturzes der Regierung in der Ukraine und ein schweres Menschenrechtsverbrechen. […] Der gewaltsame Sturz der ukrainischen Regierung führte auch zu einer Eskalation des zwischenstaatlichen Konflikts zwischen dem Westen und Russland über die Ukraine.
Die Führer des Euromaidan machten sofort die Regierung für das Massaker verantwortlich, obwohl Polizei und Demonstranten nachweislich aus denselben Gebäuden und offenbar von denselben Scharfschützen angegriffen wurden.
Anders als zwei Tage zuvor, als sich Polizisten und Demonstranten im Nahkampf gegenseitig töteten, schossen die Mörder vom 20. Februar aus der Distanz. Sie zielten nicht auf die Anführer des Euromaidan, die Hauptbühne der Proteste oder die bewaffneten Maidan-Sicherheitskräfte, sondern auf Polizisten und unbewaffnete Demonstranten.
Die meisten Sympathisanten der Opposition innerhalb und außerhalb der Ukraine gaben sofort der Regierung die Schuld. Sie vermuteten, dass die Demonstranten die Polizei zurückgedrängt hatten und dass der anschließende Massenmord an unbewaffneten Demonstranten ein Racheakt der Polizei war. Die EU-Außenminister kündigten umgehend Sanktionen gegen ukrainische Offizielle an und auch die USA zögerten nicht, Janukowitsch für das Massaker verantwortlich zu machen.
Um 9:32 Uhr, inmitten des Massakers, wurde bekannt gegeben, dass das Parlament an diesem Tag nicht zusammentreten würde. Das Massaker – insbesondere der Massenmord an unbewaffneten Demonstranten – erschütterte den Staat bis ins Mark. Staatsdiener wollten nicht mit dieser schrecklichen Bluttat in Verbindung gebracht werden und auch nicht die Regierung vertreten, die weithin als Schuldiger angesehen wurde. Dutzende Polizisten ergaben sich offenbar, wurden aber in jedem Fall von den Demonstranten gefangen genommen. Am Nachmittag öffnete das Parlament zu einer Dringlichkeitssitzung. An der Sitzung nahmen Abgeordnete der Opposition und etwa ein Viertel der Abgeordneten der Partei der Regionen teil, die sich der Opposition anschlossen und dafür stimmten, die Polizei von den Maidan-Protesten abzuziehen.
Zunächst hatte Janukowitsch die Kontrolle über die Sicherheit auf dem Maidan verloren, was Dutzende von Toten zur Folge hatte. Dies führte zu einem Vertrauensverlust in die Regierung, selbst innerhalb der Regierungspartei. Einige Parteifunktionäre forderten die Abspaltung der südöstlichen Regionen der Ukraine, sollte es Janukowitsch nicht gelingen, die Lage zu stabilisieren.
Am folgenden Tag, dem 21. Februar, waren zahlreiche hohe Beamte entweder zurückgetreten, aus der Partei der Regionen ausgetreten oder aus Kyjiw geflohen, darunter der Bürgermeister, der Innenminister, der stellvertretende Generalstabschef und der Generalstaatsanwalt. Präsident Janukowitsch traf sich unterdessen mit Oppositionsführern und Vertretern aus Deutschland, Frankreich und Polen in Anwesenheit eines russischen Offiziellen. Sie einigten sich auf einen Waffenstillstand zwischen Polizei und Demonstranten, die Bildung einer Übergangsregierung innerhalb von zwei Wochen, Verfassungsreformen bis September und Präsidentschaftswahlen bis spätestens Dezember. Janukowitsch floh jedoch noch in derselben Nacht gen Russland.
Einen Tag später setzte das Parlament Janukowitsch ohne die erforderliche Dreiviertelmehrheit offiziell ab und ernannte Arsenij Jazenjuk zum Chef einer Übergangsregierung und anschließend zum Premierminister. Bereits vor der Revolution war Jazenjuks Open Ukraine Foundation offiziell mit der NATO, Chatham House und dem US-Außenministerium assoziiert.
Damit war der Erfolg der Agents Provocateurs besiegelt. Agents Provocateurs sind verdeckte Agenten, die Straftaten begehen oder andere zu Straftaten anstiften, um einen politischen Gegner zu belasten. Im Fall der Ukraine trug das von militanten Extremisten verübte Massaker dazu bei, die Regierung zu diskreditieren. Der Massenmord an Demonstranten destabilisierte die Regierung Janukowitsch so sehr, dass sie zusammenbrach.
Russische Separatisten
Der Westen erkannte die neue Regierung sofort an, obwohl sie durch einen Staatsstreich eingesetzt wurde, der gegen ukrainisches Recht verstieß. Russland erkannte den Staatsstreich nicht an. Putin sagte später, dass er nach der Absetzung Janukowitschs den Befehl gab, „mit der Arbeit der Rückholung der Krim nach Russland zu beginnen“. Außerdem befahl er dem Verteidigungsministerium, „Spezialkräfte des GRU [Militärgeheimdienst] sowie Marinesoldaten und Kommandotruppen zu entsenden“. Interessanterweise besagt die Ehrenmedaille „Für die Rückholung der Krim“ des russischen Verteidigungsministeriums jedoch, dass Russlands Kampagne zur Rückholung der Krim bereits zwei Tage vor Janukowitschs Absetzung begann, nämlich am 20. Februar, dem Tag des Maidanmassakers. In jedem Fall übernahmen pro-russische Politiker, Aktivisten und Milizen, unterstützt von zehntausenden russischen Soldaten, in einem unblutigen Staatsstreich die Macht auf der Krim. Drei Wochen später hielten die neuen Machthaber ein Referendum über den Beitritt zu Russland ab, das mit 97% Zustimmung endete. Die neue pro-westliche Regierung in Kyjiw erkannte das Ergebnis des Referendums ebenso wenig an wie die UN. Laut einer Umfrage des US-amerikanischen Pew Research Center aus dem Jahr 2014 hielten jedoch 91% der Krimbewohner die Abstimmung für frei und fair, und 88% sprachen sich dafür aus, dass die Regierung in Kyjiw das Ergebnis respektieren sollte. Die Umfrage zeigte aber auch, dass die Krim die einzige ukrainische Region war, in der sich eine Mehrheit für Separatismus oder einen Anschluss an Russland aussprach. Demnach wollten 70% der Ostukrainer sowie 58% der russischsprachigen Ostukrainer die territoriale Integrität der Ukraine bewahren.
Die Krim beherbergt seit 1783 die russische Schwarzmeerflotte, die dort auch nach dem Zerfall der Sowjetunion verblieb, wobei Russland für die Nutzung des Marinestützpunkts in Sewastopol eine jährliche Pacht an die Ukraine zahlte. Der Landkorridor von der Krim nach Russland verläuft durch den Südosten der Ukraine, einschließlich des Donbas. Parallel zur Annexion der Krim finanzierte Russland pro-russische Aktivisten, um Aufstände in dieser Region anzuzetteln. Dies geht aus abgehörten Gesprächen zwischen Putins Berater Sergej Glasjew, dem Gründer des Moskauer Instituts der GUS-Staaten, Konstantin Zatulin, und dem stellvertretenden Direktor des Instituts, Kirill Frolow, hervor. Zatulin bestätigte die Echtheit der Aufnahmen, sagte aber, sie seien aus dem Zusammenhang gerissen.
Halya Coynash von der Kharkiv Human Rights Protection Group schrieb zu den Aufnahmen:
Glasjew sagt eindeutig […], dass alle Aufstände den Anschein erwecken müssen, von den Einheimischen auszugehen, wobei es besonders wünschenswert ist, dass Kommunen usw. an Russland appellieren, zu intervenieren. Eines der Gespräche ist mit dem russischen Politiker Konstantin Zatulin, der davon spricht, verschiedenen Gruppen „wie versprochen“ Geldbeträge zu zahlen. […]
Aus den Aufnahmen geht eindeutig hervor, dass die Aktionen von Putins Berater Glasjew finanziert und koordiniert werden, gemeinsam mit Zatulin und Frolow [ein russischer Staatsangehöriger einer pro-russischen Gruppe, die sich Union der orthodoxen Bürger der Ukraine nennt].
Die ersten aufständischen Demonstrationen waren keine ernsthafte Bedrohung für den ukrainischen Staat und hatten nur wenig Rückhalt in der Bevölkerung. Laut einer Umfrage des Donezker Instituts für Sozialstudien und politische Analysen lehnten 77% der Bürger von Donezk, der größten Stadt im Donbas, die separatistische Übernahme von administrativen Gebäuden ab. Nur 26,5% befürworteten pro-russische Demonstrationen. Das Internationale Soziologieinstitut in Kyjiw kam zu ähnlichen Ergebnissen. Demnach war der Donbas neben der Krim die Region mit den höchsten pro-russischen Zustimmungswerten. Eine Mehrheit für eine Abspaltung von der Ukraine gab es jedoch nur auf der Krim. Im Donbas befürworteten nur 30,9% eine Abspaltung der Region von der Ukraine oder einen Anschluss an Russland. 58,5% wollten, dass die Ukraine geeint bleibt, wobei die Mehrheit innerhalb dieser Gruppe mehr Autonomierechte für den Donbas innerhalb einer geeinten Ukraine befürwortete. Kritiker mögen insbesondere hinter der Umfrage des Internationalen Soziologieinstituts in Kyjiw ukrainische Propaganda vermuten, doch wurde diese Umfrage von Iwan Katschanowski durchgeführt, der das Maidanmassaker als ukrainischen Anschlag unter falscher Flagge entlarvte und daher sicher kein Propagandist der ukrainischen Regierung ist.
Im April 2014 begannen von Russland unterstützte Milizen, administrative Gebäude im Donbas zu besetzen. Die ukrainische Polizei hielt sich mehrfach zurück, offenbar aus Angst, eine ausgewachsene russische Invasion wie auf der Krim zu provozieren, wegen der schlechten Moral innerhalb der Polizei, nachdem sie für das Massaker auf dem Maidan verantwortlich gemacht wurde und gerade die Krim verloren hatte, und weil ein Teil der Polizisten im Donbas mit Russland sympathisierte. Die Zurückhaltung der Polizei ermöglichte es den militanten Separatisten, Teile der Donbas-Provinzen zu besetzen und zwei Militärdiktaturen zu errichten, sogenannte Volksrepubliken, die de facto unter russischer Kontrolle standen.
Halya Coynash fasste die Situation im Donbas so zusammen:
Anfang März 2014 versuchte Pawel Gubarew, ein Ukrainer aus Donezk mit einer Vergangenheit in der neonazistischen Partei Russische Nationale Einheit, einen „Volksaufstand“ in Donezk anzuzetteln und erklärte sich selbst zum „Bürgermeister des Volkes“. Der besagte Aufstand und die Idee, dass es einen „Volksbürgermeister“ geben müsse, lehnten sich eng […] an das Szenario an, das von Putins Berater Sergej Glasjew vorangetrieben und üppig finanziert wurde. Gubarews Aufstand scheiterte, und selbst das Auftauchen sogenannter „Touristen“ – stämmige Russen, die geholt wurden, um die Unterstützung zu leisten, die sie von den einheimischen Ukrainern nicht bekommen konnten – verfehlte das Ziel Moskaus. Erst als Igor Girkin [Codename Strelkow], ein russischer „ehemaliger“ FSB-Offizier, und seine schwer bewaffneten und ausgebildeten Männer […] in Slawjansk eintrafen, fielen Teile des Donbas in die Hände der russischen bzw. russisch kontrollierten Kämpfer.
Erwähnenswert ist, dass sich Gubarew auch einer immer größer werdenden Zahl von Russen – oder, wie er, pro-russischen ukrainischen Bürgern – angeschlossen hat, die […] jede Vorspiegelung eines „Bürgerkriegs“ im Donbas fallen gelassen haben […]. In einem Interview mit Maxim Kalaschnikow […] erklärte Gubarew ganz klar, dass es ohne die russische Beteiligung keine selbsternannte Donezker Volksrepublik gegeben hätte […]. Es war Girkin (und seinen schwer bewaffneten Männern) gelungen, „den Aufstand aus einem gewöhnlichen, unbewaffneten und zahnlosen Straßenprotest herauszuziehen“.
Girkin hat seinerseits offen zugegeben, dass die ersten Schüsse und damit die Gewalt im Donbas tatsächlich von seinen Männern provoziert wurden.
Alexander Schuchkowski, der offen neonazistische, russisch-nationalistische Ansichten vertritt, kam zusammen mit Girkin in Slawjansk an. […] [Er] veröffentlichte ein Buch mit dem Titel 85 Days in Slavyansk [„85 Tage in Slawjansk“], in dem er offen über die Rolle Russlands bei der Entfesselung und Durchführung von Militäraktionen im Osten der Ukraine spricht.
Ein anderer der ersten russischen Anführer der sogenannten Donezker Volksrepublik, der rechtsextreme Nationalist Alexander Borodai, hat ebenfalls zugegeben, dass er und die anderen Aufständischen ohne die russische Militärintervention tot wären.
Alexander Schuchkowski ist Mitglied der ultranationalistischen Russischen Reichsbewegung, ein Tummelplatz für militante Neonazis. Der folgende Text ist aus Schuchkowskis Buch, 85 Days in Slavyansk:
Strelkow [Igor Girkin] und seine Krim-Kompanie waren die erste Gruppe von Freiwilligen, die die russische Grenze zum Donbas überquerte. Sie bildeten den Kern der Slawjansker Garnison und später der Streitkräfte der Donezker Volksrepublik. […]
Damals schrieb ich auf meinen Social-Media-Seiten über die Umstände meiner Ankunft im Donbas. In der Folge erhielt ich viele Nachrichten von Menschen, die kommen wollten. Wir blieben in Kontakt mit den Menschen, die uns […] geholfen hatten, die Grenze zu überqueren, und mit ihrer Hilfe organisierten wir zwei Grenzübergänge. Die Übergänge befanden sich an Orten, die es den Ukrainern unmöglich machten, die Freiwilligen festzuhalten, und verfügten über Signalmänner, die die Freiwilligen alarmierten, wenn Ukrainer in der Nähe waren.
Die Freiwilligen kamen in der Region Rostow in Russland an, meist in der Nähe des Dorfes Millerowo. Dort trafen sie auf Führer, überquerten die Grenze und fuhren dann von Luhansk nach Donezk und dann nach Slawjansk. […]
Oleg Melnikow und ich koordinierten in den nächsten anderthalb Jahren den Zustrom russischer Freiwilliger in den Donbas. […] Diese Freiwilligen fanden Informationen darüber, wie sie sich als Kriegsfreiwillige melden konnten, auf unserer VKontakte-Seite „Berichte aus der Miliz Neurussland“ (ursprünglich „Berichte von Strelkow“) sowie auf den russischen nationalistischen Websites Sputnik and Pogrom und Right View. […]
Die bereits erwähnte Website Right View wird von der Russischen Reichsbewegung betrieben, einer Organisation unter der Leitung von Stanislaw Worobjew und Denis Garijew. Die Anführer waren beide in Sankt Petersburg ansässig und leiteten dort einen Militärsportverein, die Reichslegion. Die Legion rekrutierte, trainierte, versorgte und entsandte im Laufe des Krieges etwa zwanzig Gruppen in den Donbas. […]
Die Gesamtzahl der Freiwilligen im Donbas-Krieg ist schwer zu ermitteln, da niemand jemals eine Zählung durchgeführt hat. Sehr groben Angaben zufolge dienten zwischen 35 und 50.000 Männer in der Miliz.
Offenbar rekrutierten russische Staatsdiener gezielt ultranationalistische Kräfte für den Krieg im Donbas. Wer sich weigerte, war Repressalien ausgesetzt, während Beihilfe mit Geld und politischen Posten belohnt wurde, berichtet der auf der Krim geborene ukrainische Politologe und Faschismusforscher Anton Schechowzow:
[Z]wei prominente russische Ultranationalisten, Alexander Below und Dmitri Demuschkin, erklärten, russische Beamte hätten versucht, sie zu überreden, Mitglieder ihrer Organisationen als Freiwillige in die Ukraine zu schicken, um auf der Seite der Separatisten zu kämpfen. […] Below und Demuschkin weigerten sich, am Krieg teilzunehmen, und die russischen Behörden begannen, sie aus verschiedenen, offenbar haltlosen Gründen zu verfolgen. […]
[Im Mai 2014] wurden Alexander Borodai und Igor Girkin [‥] – zwei Geschäftspartner von Konstantin Malofejew, einem russischen Geschäftsmann und Eigentümer von Marshall Capital Partners […] – zum Premierminister und Verteidigungsminister der Donezker Volksrepublik ernannt.
Aufgrund der Zurückhaltung der ukrainischen Polizei und des Militärs waren irreguläre Truppen, darunter auch privat finanzierte paramilitärische Neonazis, in der Anfangsphase des Widerstands gegen die Donbas-Separatisten maßgeblich beteiligt, wie Iwan Katschanowski beschreibt:
Russland unterstützte die Separatisten im Donbas zunächst, indem es Freiwillige und Waffen über die Grenze aus Russland einreisen ließ und den Separatisten Waffen, Rekrutierung, Ausbildung und einen sicheren Unterschlupf bot. Die russische Regierung drohte auch mit dem Einsatz militärischer Gewalt in der Ukraine und stationierte im Frühjahr und Sommer 2014 eine große Zahl von Militärs in der Nähe der Grenze zu den Regionen Donezk und Luhansk und anderen Regionen der Ukraine. […]
[V]iele der Regierungstruppen zögerten zunächst, den Befehl zum Einsatz von Gewalt gegen die Separatisten zu befolgen. Paramilitärische Einheiten und spezielle Polizeibataillone, die von radikalen nationalistischen und neonazistischen Organisationen mit Hilfe der Regierung und von Oligarchen organisiert wurden, waren demzufolge viel stärker ideologisch motiviert und bereit, Gewalt anzuwenden. […]
Spezielle Polizeibataillone, das Asow-Bataillon/Regiment und paramilitärische Formationen wie das Ukrainische Freiwilligenkorps, die seit Frühjahr und Sommer 2014 von rechtsextremen Organisationen wie dem Rechten Sektor, der Sozial-Nationalen Versammlung und Swoboda organisiert und angeführt werden, bildeten während des Krieges im Donbas eine Minderheit der ukrainischen Streitkräfte, doch waren diese rechtsextremen Formationen überproportional am gewaltsamen Konflikt beteiligt, insbesondere an der Gewalt gegen Zivilisten und Kriegsgefangene.
Es dauerte eine Weile, bis das ukrainische Militär gegen die Separatisten vorging, aber bis August 2014 hatte die Ukraine einen Großteil der Separatistengebiete zurückerobert. Russland verstärkte daraufhin seine militärische Unterstützung für die Separatisten. Putin bestritt dies, aber der Donbas grenzt nur an die Ukraine und Russland, und es ist zweifelhaft, dass viel Nachschub aus der Ukraine kam. Tatsächlich waren die Separatisten auf die Unterstützung verschiedener Ebenen der russischen Gesellschaft, einschließlich der Streitkräfte, angewiesen. Zu jener Zeit starben nach offiziellen russischen Angaben ungewöhnlich viele russische Soldaten im Rahmen einer nicht näher bezeichneten Sondermission „an einem Ort der vorübergehenden Versetzung“. Als Reaktion auf die russische Offensive verbot die Ukraine 14 russische Fernsehsender und der ukrainische Verteidigungsminister erklärte, die Ukraine hat es mit einer russischen Invasion zu tun.
Iwan Katschanowski schrieb über die russische Offensive:
Aus verschiedenen Quellen geht hervor, dass trotz der anhaltenden Leugnung durch die russische Regierung Ende August 2014 eine direkte russische Militärintervention im Donbas begann. Sie nahm die Form von Vorstößen mehrerer bataillonsgroßer Einheiten an, um eine Niederlage der separatistischen Kräfte und Angriffe auf die Städte Donezk und Luhansk zu verhindern. Dazu gehören ein Bericht des ukrainischen Verteidigungsministeriums […] sowie Berichte von Separatisten, Videos von russischen Militärkonvois, Videos von gefangen genommenen russischen Soldaten und Ausrüstungsgegenständen, Berichte aus erster Hand von westlichen Medien und Augenzeugen sowie veröffentlichte Satellitenbilder von russischen Militärfahrzeugen auf der ukrainischen Seite der Grenze. […] Die russischen Streitkräfte waren in der Regel aus der Ferne an den Kämpfen beteiligt und beschossen die ukrainischen Stellungen mit Artillerie, Mehrfachraketenwerfern und Panzern. Es gibt Videos und andere Beweise dafür, dass sie im Juli 2014 mit dem Beschuss ukrainischer Stellungen vom russischen Territorium nahe der Grenze aus begonnen haben.
Im September 2014, unmittelbar nachdem Russland mit seiner direkten militärischen Intervention keinen Zweifel an seiner Bereitschaft ließ, die Donbas-Separatisten mit aller Gewalt vor einer Niederlage zu bewahren, unterzeichneten die Ukraine, Russland und die Separatisten ein Waffenstillstandsabkommen, das Minsker Protokoll. Das Abkommen wurde jedoch schon am ersten Tag von der berüchtigten russischen Neonazi-Einheit Russitsch gebrochen, die nördlich von Luhansk eine Offensive gegen die ukrainischen Streitkräfte startete.
Halya Coynash berichtete von der Offensive sowie von verstörenden Aufnahmen der Russitsch-Kämpfer:
Alexei Milchakow ist ein Sankt Petersburger Neonazi, der von der Enthauptung von Hundewelpen und der Aufforderung an andere Neonazis, Penner in Russland zu töten, zur Folterung ukrainischer Soldaten im Donbas als Teil einer Formation namens Russitsch übergegangen ist. […]
Am 5. September, dem Tag, an dem das erste Minsker Abkommen unterzeichnet wurde, […] wurden ukrainische Soldaten von der Gruppe Russitsch angegriffen. Milchakow gehörte zu den Kämpfern, die Videos von sich selbst veröffentlichten, in denen sie […] einem ihrer Opfer das Ohr abschneiden.
Russische Pro-Kreml-Medien haben sowohl Milchakow als auch [seinen militanten Neonazi-Kollegen Jan] Petrovsky gerne interviewt, wobei sie indiskrete Fragen über ihre neonazistischen Ansichten vermieden haben […].
Unter Missachtung des Minsker Protokolls hielten die Separatisten im November Wahlen ab, die mit Unterstützung von Putins Berater Wladislaw Surkow organisiert wurden, wie Reuters berichtete:
[Wladislaw Surkow] entscheidet, wie die Pro-Moskau-Verwaltung der Ostukraine geführt wird und wer dort welche Aufgaben bekommt, sagten drei ehemalige Rebellenführer[.] […]
„Jeder Anruf aus Moskau wurde als Anruf aus dem Büro des Herrgotts selbst angesehen und […] sofort umgesetzt“, erinnerte sich Alexei Alexandrow, einer der Anführer der separatistischen Rebellion in Donezk, der das Gebiet in der Ostukraine inzwischen verlassen hat. Zwei weitere Separatisten bestätigten seinen Bericht, wollten aber nicht namentlich genannt werden. […]
Die Separatisten, die sich gemeldet haben, um Surkows Rolle zu beschreiben, sagen, dass er auch eine Schlüsselrolle gespielt hat bei der Ernennung von Alexander Sachartschenko zum Führer der selbsternannten Donezker Volksrepublik (DNR) in der Ostukraine, der bevölkerungsmäßig größten abtrünnigen Einheit der Rebellen.
Sachartschenko, ein ehemaliger Bergwerkselektriker aus der Ostukraine, war der Anführer einer Anti-Kyjiw-Miliz, als er 2014 nach Moskau berufen wurde. Separatistenführer wollten ihn zum Verteidigungsminister machen […]. Aber nachdem er Surkow im Kreml getroffen hatte, kam aus Surkows Büro die Nachricht, dass Sachartschenko den Spitzenjob [Premierminister der DNR] erhalten sollte.
Zu dieser Zeit wurden die Donezker Rebellen von zwei Männern angeführt, die sich selbst als Freiwillige aus Russland bezeichneten. Der rechtsextreme ehemalige Journalist Alexander Borodai war der politische Anführer, und Igor [Girkin] Strelkow, der angab, ein ehemaliger Agent des russischen Föderalen Sicherheitsdienstes (FSB) zu sein, war der militärische Befehlshaber.
Moskau wollte sie durch einen Einheimischen ersetzen, um dem Westen zu zeigen, dass der Aufstand ein Graswurzelphänomen war, sagte Borodai gegenüber Reuters. Die Wahl fiel auf Sachartschenko, den man als leicht zu kontrollieren ansah, so eine der drei ehemaligen Separatistenquellen.
Nach dem, was [Ex-Separatist] Alexandrow als mündliche Anweisung aus Surkows Büro beschrieb, traten Borodai und Strelkow still und leise zurück, so dass Sachartschenko [im November 2014] die Führung übernehmen konnte. […]
Surkows Aktivitäten […] konzentrierten sich auf die Auswahl von Personal für leitende Positionen, auf die Schaffung einer Struktur für die separatistische Verwaltung, auf die Formulierung einer Medienstrategie für die Separatisten und die Planung von Kommunalwahlen, so die Personen, die mit Reuters sprachen.
Auch Iwan Katschanowski stellte fest, dass die Separatistenrepubliken von Moskau regiert wurden:
[E]s gibt Hinweise, auch aus separatistischen Quellen, die darauf hindeuten, dass die separatistischen Republiken im Donbas Ende des Sommers 2014 de facto zu Satellitenstaaten Russlands wurden. Bald nach der direkten russischen Militärintervention im August 2014 wurden fast alle separatistischen Einheiten im Donbas faktisch unter das Gesamtkommando von „Kuratoren“ oder Berater des russischen Militärs gestellt. Die meisten der ursprünglich für diese Einheiten verantwortlichen separatistischen Kommandeure, darunter auch Strelkow, wurden gezwungen, den Donbas in Richtung Russland zu verlassen. Die verbleibenden Kommandeure wurden teilweise in die neuen [..] Einheiten integriert, die vom russischen Militär ausgerüstet und ausgebildet wurden. Einige der ursprünglichen Separatistenkommandeure wurden verhaftet oder getötet, wie Oleksij Mozgowyj, weil sie sich dieser Eingliederung widersetzten […].
Anfang 2015 eskalierten die Kämpfe erneut und im Februar errangen die Separatisten dank russischer Hilfe einen entscheidenden Sieg bei Debalzewe. Es folgte ein weiteres Waffenstillstandsabkommen, Minsk II. Iwan Katschanowski schrieb:
[N]ach direkten russischen Militärinterventionen im Donbas während der Kämpfe Ende August 2014 und im Februar 2015 wurden die ukrainischen regulären Einheiten und Spezialeinheiten der Polizei sowie die rechtsextremen Freiwilligenbataillone in den Gebieten Ilowajsk und Debalzewe eingekesselt, zogen sich zurück und erlitten Verluste. In beiden Fällen hat Präsident Poroschenko seine Entscheidung, mit militärischer Gewalt gegen die Separatisten vorzugehen, schnell revidiert und die Minsker Waffenstillstandsabkommen ausgehandelt. […]
[D]ie indirekte Unterstützung der Separatisten durch die russische Regierung und die anschließende direkte militärische Intervention […] erwiesen sich als entscheidend dafür, dass die Separatisten das Blatt wenden und die ukrainischen Streitkräfte daran hindern konnten, den gesamten Donbas zurückzuerobern. […]
Die Analyse verschiedener Quellen, wie die Berichte der UN- und OSZE-Missionen, Videos von den Angriffen und Berichte westlicher Journalisten vor Ort, legt nahe, dass die meisten zivilen Opfer während der ukrainischen Angriffsphase und der Stellungsphase des Krieges auf den Beschuss von Städten, Ortschaften und Dörfern durch die ukrainischen Streitkräfte zurückzuführen sind, die von bewaffneten Separatisten als Stützpunkte genutzt wurden[.] […] Allerdings waren die Separatisten bzw. die russischen Streitkräfte für die meisten größeren tödlichen Angriffe während ihres Vormarsches im Januar und Februar 2015 verantwortlich, wie der Beschuss von Wolnowacha und Mariupol, der zahlreiche zivile Opfer forderte.
Minsk II forderte einen Waffenstillstand, die Entwaffnung aller illegalen Milizen, den Abzug aller ausländischen Truppen, eine Verfassungsreform in der Ukraine, um mehr politische Autonomie im Donbas zu ermöglichen, und Wahlen im Donbas unter Aufsicht der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), um über den politischen Status des Donbas innerhalb der Ukraine zu entscheiden. Keine dieser Bestimmungen wurde erfolgreich umgesetzt.
Zwar verabschiedete die ukrainische Regierung ein Gesetz zur Ordnung der lokalen Selbstverwaltung im Donbas, doch sollte dieses erst in Kraft treten und Wahlen ermöglichen, wenn alle ausländischen Truppen aus der Ukraine abgezogen sind, was diese strikt ablehnten.
Die ehemalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, die an den Verhandlungen über Minsk II beteiligt war, erklärte 2022, dass sie nicht davon ausging, dass das Abkommen tatsächlich umgesetzt wird. Laut ihrer Aussage sollte es der Ukraine Zeit geben, ihre Armee auf eine weitere Eskalation des Krieges vorzubereiten.
Ein Vorbote dieser Eskalation war die Ermordung von Boris Nemzow am 27. Februar 2015 in Sichtweite des Kremls. Nemzow war von 1997 bis 1998 stellvertretender russischer Ministerpräsident. Nach der Machtübernahme Putins wurde Nemzow zu einem seiner größten Kritiker. Er war 2008 Mitbegründer der Oppositionsbewegung Solidarnost und 2010 Mitbegründer der Partei der Volksfreiheit für ein Russland ohne Willkür und Korruption. Die Partei wurde jedoch – wie viele andere Oppositionsparteien, die keine Kreml-Marionetten sind – nie zu den Parlamentswahlen zugelassen. Nemzow kritisierte Putins Machtapparat als einen Mafia-Staat. Vor seinem Tod war Nemzow ein führender Kopf der Protestbewegung gegen Russlands Krieg im Donbas. Ein von Nemzow verfasster Bericht über die russische Invasion der Krim und des Donbas wurde posthum veröffentlicht. 2022 wurde zudem offengelegt, dass Nemzow von russischen Geheimdienstagenten unter der Leitung von Waleri Sucharew beschattet wurde, der mutmaßlich an Anschlägen auf die russischen Oppositionellen Wladimir Kara-Mursa, Alexei Nawalny und Dmitri Bykow beteiligt war.
Verhärtete Fronten
Im März 2015 stimmte das ukrainische Parlament für eine Aufstockung der Armee von 184.000 auf 250.000 Soldaten. Der Waffenstillstand im Donbas wurde weitgehend eingehalten, bis die Separatisten im Juni eine Offensive bei Marinka starteten. Nach zahlreichen Waffenstillständen, die umgehend wieder gebrochen wurden, brachte ein erneuter Waffenstillstand im September die Kämpfe auf den niedrigsten Stand seit Beginn des Krieges. Dennoch kam es immer wieder zu Gefechten entlang meist unveränderter Frontlinien.
Im Dezember 2015 kündigte Russland an, die Ukraine aus dem GUS-Freihandelsabkommen auszuschließen. Die ukrainische Regierung verhängte daraufhin Handelsbeschränkungen gegen Russland und unterzeichnete ein Handelsabkommen mit der EU.
In den folgenden Jahren machte die Ukraine keine nennenswerten Fortschritte in Bezug auf die Krim, den Donbas oder die Wirtschaft. Es überrascht nicht, dass die Ukrainer laut einer Umfrage des Internationalen Republikanischen Instituts aus dem Jahr 2017 mit diesen Entwicklungen unzufrieden waren. Demnach waren die postrevolutionären Regierungen, deren Korruption und wirtschaftspolitisches Versagen als Hauptursachen für die weit verbreitete Armut angesehen wurden, allgemein eher unbeliebt. Die Wirtschaftsblockade gegen die Separatistengebiete wurde überwiegend abgelehnt, ebenso wie eine Abspaltung der Gebiete von der Ukraine. Nur 6% der Ukrainer im von der ukrainischen Regierung kontrollierten Teil des Landes sprachen sich für eine Abspaltung der Separatistengebiete aus, im ukrainisch kontrollierten Teil des Donbas sogar nur 4%.
Die Umfrageergebnisse des Internationalen Republikanischen Instituts wurden durch Erhebungen des Berliner Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien aus den Jahren 2016 und 2019 bestätigt. Demnach sprachen sich 2016 im ukrainisch kontrollierten Donbas 7,6% für eine Abspaltung der Separatistengebiete von der Ukraine aus, 2019 sank die Zahl auf 4,6%. In den Separatistengebieten selbst waren die Zahlen deutlich höher. 44,5% waren 2016 für eine Abspaltung von der Ukraine, 2019 waren es 45,5%. Dennoch gab es somit fünf Jahre nach Gründung der Volksrepubliken selbst innerhalb dieser Regionen keine Mehrheit für eine Abspaltung von der Ukraine. Die Bewohner der Separatistengebiete sprachen sich klar für eine Dezentralisierung der politischen Macht innerhalb der Ukraine und mehr Autonomie für den Donbas aus, wollten sich aber nicht von der Ukraine abspalten oder Teil Russlands werden, ganz im Gegensatz zu dem, was die Separatistenführer anstrebten. Kritiker könnten hinter dieser Untersuchung westliche Propaganda vermuten, jedoch bestätigte sie auch, dass die Selbstidentifikation der Menschen im ukrainischen Donbas als ukrainische Staatsbürger zwischen 2016 und 2019 deutlich zurückging, was sicher nicht im Sinne der ukrainischen oder westlichen Propaganda ist. Zudem bestätigte die Untersuchung, dass die Bewohner der Separatistengebiete sich ethnisch und sprachlich eher als russisch denn als ukrainisch sahen. In der Frage der Staatsbürgerschaft war es jedoch umgekehrt, wobei die größte Gruppe sich weder als ukrainische noch als russische Staatsbürger identifizierte, sondern als gemischt ukrainisch-russisch und als Bürger des Donbas.
Die von der Bevölkerung in den Separatistengebieten favorisierte Lösung einer größeren Unabhängigkeit des Donbas innerhalb der Ukraine scheiterte letztlich an den unvereinbaren Positionen Russlands und der Ukraine. Russland wollte die Volksrepubliken durch selbst organisierte Wahlen legitimieren und von der Ukraine abspalten, die Ukraine forderte den Abzug aller russischen Truppen sowie die Entwaffnung der übrigen Separatisten. Russland verleugnete jegliche militärische oder politische Zusammenarbeit mit den Separatisten und bemühte sich, die Separatistengebiete als Brückenkopf für eine spätere Annexion zu stärken, während die Ukraine ihre Beziehungen zu EU und NATO intensivierte, um die Gebiete militärisch zurückzuerobern.
Im Februar 2017 begann Russland, die von den Separatisten ausgestellten Kfz-Zulassungen und Personalausweise anzuerkennen und sie damit offiziell als legitime Behörden einzustufen. Im Juni machte das ukrainische Parlament per Gesetz die NATO-Mitgliedschaft zur außenpolitischen Priorität. Im Januar 2018 verabschiedete das Parlament ein Gesetz, das dem Präsidenten den Einsatz militärischer Gewalt erlaubt, um die Kontrolle über den Donbas wiederzuerlangen. Das Gesetz benennt Russland ausdrücklich als Aggressor. Im Februar 2019 änderte das Parlament die Verfassung, um den Beitritt zu NATO und EU zu ermöglichen. Zwei Monate später begann Russland mit der Verteilung russischer Pässe an Ukrainer in den Separatistengebieten. Damit einher ging die weitere Integration des dortigen Bildungssystems in das russische System mit Schwerpunkten auf Militarisierung und Russifizierung.
In seiner letzten Amtswoche im Mai 2019 unterzeichnete Präsident Poroschenko ein Gesetz zur Förderung der ukrainischen Sprache und zur Herabstufung des Status des Russischen. Dieser Schritt war im Südosten der Ukraine, wo Russisch die Erstsprache der meisten Ukrainer ist, äußerst unpopulär. Zu diesem Zeitpunkt hatte Poroschenko gerade die Wahlen gegen Wolodymyr Selenskyj verloren.
Selenskyj, dessen Muttersprache Russisch ist, erhielt die meisten Stimmen in Regionen mit überwiegend russischsprachigen Ukrainern. Vor seiner politischen Karriere spielte Selenskyj in einer beliebten russischsprachigen Sitcom die Hauptrolle eines Lehrers, der zum Präsidenten der Ukraine gewählt wird. Die Serie wurde erstmals 2015 ausgestrahlt, Selenskyjs Partei wurde 2018 gegründet und nach der Serie benannt. Sie lief auf einem Sender von Igor Kolomoyskyi, dem Hauptaktionär von Burisma, dem größten Öl- und Gaskonglomerat der Ukraine. Selenskyj war ein Protegé des zwielichtigen Oligarchen Kolomoyskyi, pflegte aber ein Image als unabhängiger Kämpfer gegen Korruption. Laut den Pandora Papers des Internationalen Netzwerks investigativer Journalisten versteckte Selenskyj gemeinsam mit Dutzenden ukrainischen Politikern unversteuertes Vermögen auf geheimen Offshore-Konten. Davon handelt auch der Dokumentarfilm Offshore 95, dessen Ausstrahlung in der Ukraine die Selenskyj-Regierung offenbar verhindern wollte, jedoch ohne Erfolg.
2013 hatte Burisma zwei enge Mitarbeiter von US-Vizepräsident Joe Biden eingestellt, der in der Obama-Regierung für die Ukraine zuständig war. 2014 stellte Burisma auch Bidens Sohn Hunter ein, obwohl Hunter Biden keinerlei Erfahrung in der Ukraine oder im Energiesektor hatte. Cofer Black, ein ehemaliger CIA-Agent und US-Koordinator für Terrorismusbekämpfung, kam 2017 zu Burisma. Burisma spendete außerdem an den Atlantic Council, eine in Washington ansässige Denkfabrik des tiefen Staates.
Bereits 2012 hatte die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft begonnen, gegen den Gründer von Burisma, Mykola Slotschewskyj, wegen Geldwäsche und Steuerhinterziehung zu ermitteln. Die Ermittlungen spitzten sich während der Amtszeit von Viktor Schokin zu, der 2015 Generalstaatsanwalt wurde. Im Oktober desselben Jahres ließ Schokin Hennadij Korban, einen Geschäftspartner von Kolomoyskyi, wegen Korruptionsvorwürfen verhaften. Einen Monat später wurde ein Attentat auf Schokin verübt, das an den kugelsicheren Fenstern seines Büros scheiterte. Gleichzeitig wurde Schokin wegen mangelnder Erfolge bei der Korruptionsbekämpfung stark kritisiert. EU- und US-Diplomaten, der IWF und NGOs wie das Anti-Korruptions-Aktionszentrum (AntAC) und die Open Dialogue Foundation (ODF) setzten sich gegen Schokin ein. AntAC wurde von der Obama-Regierung und George Soros finanziert. ODF hat Verbindungen zu Google, Soros-finanzierten NGOs und dem kasachischen Oligarchen Muchtar Äbljasow.
Im Februar 2016 beschlagnahmte Schokin das Vermögen von Slotschewskyj, der unter der Janukowitsch-Regierung Minister für Ökologie und natürliche Ressourcen sowie stellvertretender Sekretär des nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates war. Die Anklage lautete auf unerlaubte Bereicherung. Eine Woche später drohte der IWF, Kredite in Höhe von 40 Milliarden Dollar zurückzuhalten, wenn die Ukraine keine grundlegenden Reformen durchführt. US-Vizepräsident Biden drängte Präsident Poroschenko in einem Telefonat, die Forderungen des IWF zu erfüllen. Eine weitere Woche später forderte Poroschenko Schokin zum Rücktritt auf, woraufhin Schokin ein Rücktrittsgesuch an Poroschenko richtete.
Zwei Jahre später prahlte Joe Biden vor dem Council on Foreign Relations, dass er damit gedroht hatte, der Ukraine eine Milliarde Dollar an US-Krediten vorzuenthalten, wenn Schokin nicht abgesetzt würde. Trotz dieses Eingeständnisses bestritt Poroschenko später, dass seine Entlassung Schokins etwas mit Biden zu tun hatte und bezeichnete Schokin als verrückt, weil dieser das Gegenteil behauptete. Poroschenko sagte jedoch auch, dass er die Unterstützung der USA für die Ukraine nicht gefährden wollte, so dass seine Leugnung von Bidens Einfluss von seinem Eigeninteresse überschattet wird, die US-Machteliten nicht zu verärgern, was die Folge einer Bestätigung von Schokins Anschuldigungen gegen Biden gewesen wäre. Erwähnenswert ist auch, dass Burisma Geschäfte mit Unternehmen von Poroschenko machte, der schon vor seiner Amtszeit als Präsident Milliardär war, aber bei weitem nicht so reich wie Russlands Präsident Putin.
Einen Monat vor seiner offiziellen Entlassung im April ordnete Schokin eine Razzia bei AntAC wegen veruntreuter Hilfsgelder an. Schokins Nachfolger, Juri Luzenko, sagte später, die US-Botschafterin in der Ukraine, Marie Yovanovitch, habe ihn gebeten, bestimmte Personen nicht strafrechtlich zu verfolgen, darunter einen der Gründer von AntAC und zwei Parlamentsabgeordnete, die die Gruppe unterstützen. Auch der stellvertretende US-Botschafter George Kent drängte ukrainische Staatsanwälte, ihre Ermittlungen gegen AntAC einzustellen. Letztlich wurden sowohl AntAC als auch Burisma weitgehend in Ruhe gelassen.
Nach Schokins Rücktritt wurde der Fall Slotschewskyj zunächst von einem Fall unrechtmäßiger Bereicherung zu einem Fall von Steuerhinterziehung herabgestuft und dann 2017 eingestellt, nachdem er 5 Millionen Dollar an den ukrainischen Bundeshaushalt gezahlt hatte. Ein Kyjiwer Bezirksgericht hob das Urteil 2018 auf und nahm das Verfahren nach einer Beschwerde der Parlamentsabgeordneten Tetjana Tschornowol wieder auf. Im September 2019 überlebte Schokin ein weiteres Attentat. Diesmal wurde er mit Quecksilber vergiftet und erlitt zwei Herzstillstände. Anschließend verdächtigte er Joe Biden, in das Attentat verwickelt zu sein.
Im Februar 2020 erwirkte Schokin eine gerichtliche Verfügung zur Einleitung eines Verfahrens über Joe Bidens vermeintliche Erpressung der Ukraine, die laut Schokin im Zusammenhang mit seinen Ermittlungen gegen Slotschewskyj und andere Burisma-Führungskräfte stand. Das Verfahren wurde im November wieder eingestellt, nachdem Biden die US-Wahlen gewonnen hatte. Die ukrainischen Ermittler kamen zu dem Schluss, dass Schokin freiwillig zurückgetreten war und dass es keine Beweise dafür gab, dass er dazu gedrängt wurde. Ein 2023 veröffentlichter FBI-Bericht bestätigte jedoch, dass Slotschewskyj 10 Millionen Dollar an Joe und Hunter Biden gezahlt hatte, damit sie ihren Einfluss geltend machen, um Schokin abzusetzen.
Im Dezember 2020 beschlagnahmte das nationale Antikorruptionsbüro der Ukraine Bestechungsgelder in Höhe von 6 Millionen Dollar und verhaftete drei Personen, die versucht hatten, den Leiter der Sonderstaatsanwaltschaft für Korruptionsbekämpfung zu bestechen, um die Ermittlungen gegen Slotschewskyj einzustellen. Einer von ihnen machte 2021 einen Deal mit der Staatsanwaltschaft, in einem anderen Korruptionsfall auszusagen, um nicht ins Gefängnis zu müssen. Die beiden weiteren Beschuldigten vermieden ebenfalls Gefängnisstrafen, indem sie sich 2023 dazu verpflichteten, Geld an das ukrainische Militär zu spenden. Slotschewskyj selbst wurde zu einer Geldstrafe von 68.000 ukrainischen Hrywnja verurteilt, umgerechnet etwa 1.700€. Zusätzlich zur Geldstrafe musste er sich dazu verpflichten, rund 17 Millionen Euro an das ukrainische Militär zu spenden.
Man kann ohne Übertreibung sagen, dass es bei der staatlichen Korruptionsbekämpfung in der Ukraine drunter und drüber ging. Die Instabilität des Rechtsstaates zeigte sich auch in der Tatsache, dass Selenskyj innerhalb weniger Jahre drei neue Generalstaatsanwälte ernannte und eine Reihe von Klagen gegen seinen Vorgänger Poroschenko anstrengte. Derweil erkannte keine der postrevolutionären Regierungen die Beweise für die Beteiligung von Euromaidan-Anhängern des Rechten Sektors am Massaker an unbewaffneten Demonstranten während der Revolution 2014 an. Stattdessen wurden 2023 drei ehemalige Offiziere der ukrainischen Spezialeinheiten wegen ihrer angeblichen Beteiligung am Massaker zu langen Haftstrafen verurteilt. Alle drei befanden sich zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung längst in Russland, nachdem die Ukraine sie 2019 gegen Gefangene ausgetauscht hatte, die nach ihrer Festnahme in den ukrainischen Separatistengebieten in Russland inhaftiert wurden.
Vor seiner Präsidentschaft hatte Selenskyj häufig Verhandlungen zur Beendigung des Donbas-Krieges gefordert. Selenskyj äußerte sich auch zur Sprachenpolitik und erklärte, dass die Menschen auf der Krim und im Donbas die Freiheit haben sollten, Russisch zu sprechen. Als Präsident hat Selenskyj das von Poroschenko unterzeichnete Sprachengesetz von 2019, das die russische Sprache diskriminiert, jedoch nicht überarbeitet.
2018 sagte Selenskyj, Moskau und Kyjiw müssen miteinander reden und sich irgendwo in der Mitte treffen. Er deutete damit an, dass er zu Zugeständnissen an Russland bereit war. Dabei ließ er offen, ob es sich um territoriale Zugeständnisse wie die Anerkennung der russischen Annexion der Krim, OSZE-überwachte Wahlen im Donbas, oder eine Absage an die NATO-Beitrittsbestrebungen der Ukraine handeln würde. Letztlich weigerte sich Selenskyj jedoch, die russischen Forderungen zu erfüllen. 2019 sagte er, Wahlen im Donbas könnten erst nach der Kapitulation der Separatisten und der Wiederherstellung der ukrainischen Grenze stattfinden, was jedoch komplett unrealistisch war.
Angeblich wegen CoViD riegelten die Separatisten die Frontlinie zur Ukraine für die Zivilbevölkerung vollständig ab, während die Grenze zu Russland offen blieb. Dabei handelte es sich offenbar um eine Maßnahme, die Menschen in den Separatistengebieten an der Ausreise in die Ukraine zu hindern. Nach den bereits erwähnten Erhebungen des Berliner Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien aus den Jahren 2016 und 2019 pendelte fast die Hälfte der Bewohner der Separatistengebiete mindestens einmal im Jahr auf die ukrainische Seite, wobei die Häufigkeit der Grenzübertritte im Jahr 2019 zugenommen hatte, während über 90% der Bewohner des ukrainisch kontrollierten Donbas nie in die Separatistengebiete reisten.
Im Februar 2020 sagte Putins Chefideologe und langjähriger Verantwortlicher für die Russifizierung des Donbas, Wladislaw Surkow, es gäbe gar keine Ukraine. Außerdem deutete er an, dass Russland in der Ukraine militärisch aktiver werden müsse.
Mike Eckel von Radio Free Liberty berichtete:
„Es gibt keine Ukraine. Es gibt ein Ukrainisch-Sein“, sagte Surkow. „Das heißt, es ist eine spezifische Störung des Geistes, eine plötzliche Leidenschaft für Ethnografie[.]“ […]
Als Surkows E-Mail-Postfach gehackt wurde und sein Inhalt 2016 durchsickerte, zeigte die Korrespondenz, dass Surkow direkt in die Einzelheiten der Verwaltung der von den Separatisten kontrollierten Gebiete eingebunden war. […]
Nachdem er Zweifel an der gegenwärtigen Souveränität der Ukraine geäußert hatte, sagte Surkow […], dass das Land in Zukunft andere Grenzen haben oder zersplittert sein könnte[.] […]
„Ich denke, dass es die Ukraine noch nicht gibt. Aber mit der Zeit wird sie existieren. Die Ukrainer sind hartnäckige Leute, sie werden es schaffen“, sagte er.
„Aber was das für eine Ukraine sein wird, wie die Grenzen aussehen werden und vielleicht sogar, wie viele Ukrainer es geben wird, das sind offene Fragen. Und auf die eine oder andere Weise wird sich Russland an der Lösung dieser Fragen beteiligen müssen.“
Und er deutete an, dass die Ukrainer historisch betrachtet Emporkömmlinge waren, die mit Gewalt zurückgedrängt werden mussten. „Die Beziehungen zur Ukraine waren nie einfach, selbst als die Ukraine noch zu Russland gehörte. Die Ukraine war für die kaiserliche [1721-1917] und sowjetische [1922-1991] Bürokratie immer lästig“, wurde er zitiert. „Gewaltsamer Zwang für brüderliche Beziehungen, das ist die einzige Methode, die sich in der Vergangenheit als wirksam erwiesen hat, wenn es um die Ukraine geht. Ich glaube nicht, dass eine andere Methode erfunden werden wird.“
Im Juni 2020 trat die Ukraine dem erweiterten Partnerschaftsprogramm der NATO bei. Im September billigte Selenskyj die neue nationale Sicherheitsstrategie der Ukraine, die unter anderem den Beitritt zur NATO vorsah. Im Februar 2021 verbot Selenskyj drei Fernsehsender, die der Regierungslinie zur Krim und zum Donbas widersprachen. Zu diesem Zeitpunkt waren Selenskyjs Zustimmungswerte auf unter 40% gesunken, da es ihm nicht gelungen war, die Wirtschaft wieder anzukurbeln, die Korruption zu beenden oder das Land wiederzuvereinigen.
Im März 2021 nahmen 28.000 NATO-Soldaten aus 27 Ländern an einer Reihe von Übungen unter dem Namen Defender Europe 2021 teil. Ein Großteil dieser Übungen fand in Osteuropa statt, was Russland als Bedrohung interpretierte. Im selben Monat wies Selenskyj sein Kabinett an, eine Strategie für die Wiedereingliederung der Krim in die Ukraine zu entwickeln. Da Russland nicht die Absicht hatte, die Krim aufzugeben, konnte die ukrainische Strategie nur eines bedeuten: dass sich die Ukraine auf Krieg vorbereitete.
Gleichzeitig verlegte Russland eine große Zahl militärischer Truppen in seine Grenzregionen zur Ukraine. Im April 2021 kündigte der stellvertretende russische Ministerpräsident an, dass Russland militärisch zugunsten der Separatisten im Donbas intervenieren könnte, sollte die ukrainische Armee versuchen, den Donbas zurückzuerobern. Im Juli veröffentlichte Putin ein Pamphlet über die historische Einheit von Russen und Ukrainern, in dem er russisch-imperialistische Narrative propagierte, die die Unabhängigkeit der Ukraine in Frage stellen.
Im Oktober 2021 besuchte der amerikanische Verteidigungsminister die Ukraine. Er unterstützte den Antrag der Ukraine auf NATO-Mitgliedschaft und betonte, dass kein anderes Land – gemeint ist Russland – ein Veto einlegen könne. Putin bezeichnete dies als eine Bedrohung der nationalen Sicherheit Russlands, eine rote Linie, die nicht überschritten werden dürfe. Kurz darauf wies Russland acht NATO-Beamte wegen Spionage aus und brach die diplomatischen Beziehungen zur NATO ab. In den folgenden Monaten verlangte Russland wiederholt die Zusicherung, dass die Ukraine nicht der NATO beitreten werde. Doch trotz ausdrücklicher Warnungen, dass Russland bereit und willens ist, sein Militär zum Schutz russischer Interessen in der Ukraine einzusetzen, weigerte sich Selenskyj, auf die russischen Forderungen einzugehen. Stattdessen setzte er, ermutigt von seinen westlichen Verbündeten, auf eine militärische Lösung.
Im Januar 2022 begannen mehrere NATO-Mitgliedsstaaten mit Waffenlieferungen an die Ukraine, und am 1. Februar ordnete Selenskyj an, in den nächsten drei Jahren 100.000 zusätzliche Soldaten für die ukrainische Armee zu rekrutieren, „damit bald und in Zukunft Frieden in der Ukraine herrscht“, was impliziert, dass er beabsichtigte, das Militär einzusetzen, um die russische Besatzung der Krim und des Donbas zu beenden.
Selenskyj unterzeichnete ein Dekret […] zur Aufstockung seiner Streitkräfte um 100.000 Mann […], sagte aber, dies bedeute nicht, dass ein Krieg mit Russland unmittelbar bevorstehe.
Selenskyj forderte die Gesetzgeber auf, Ruhe zu bewahren und Panik zu vermeiden, während er sich darauf vorbereitete, die Staats- und Regierungschefs der Niederlande, Großbritanniens und Polens – allesamt NATO-Mitglieder – zu empfangen, um die Spannungen mit Russland zu entschärfen und die internationale Unterstützung für Kyjiw zu stärken.
Russland hat mehr als 100.000 Soldaten in der Nähe der ukrainischen Grenzen zusammengezogen, bestreitet aber Pläne für eine Invasion […]. Der Westen hat in der vergangenen Woche die russischen Forderungen nach einem NATO-Beitritt der Ukraine und einem Abzug der NATO-Truppen aus Osteuropa formell zurückgewiesen […].
Putin sagte letzte Woche, die Vereinigten Staaten und die NATO seien nicht auf die wichtigsten Sicherheitsforderungen Moskaus eingegangen […].
Moskau argumentierte, dass die Aufnahme von 14 neuen NATO-Mitgliedern in Osteuropa seit dem Kalten Krieg eine Bedrohung für Russland darstelle […].
Am 15. Februar 2022 brachte die Kommunistische Partei Russlands einen Gesetzesentwurf ins Parlament ein, der die Anerkennung der separatistischen Donbas-Republiken als unabhängige Staaten vorsah. In den folgenden Tagen verstärkte die ukrainische Armee den Beschuss der von den Separatisten gehaltenen Städte im Donbas, wie aus den täglichen Berichten der OSZE-Sonderbeobachtungsmission hervorgeht. Am 21. Februar erkannten das russische Parlament und Putin die Separatisten offiziell als unabhängige Staaten an. Darauf folgte die Ankündigung der Entsendung russischer Truppen in die Donbas-Republiken gemäß den mit den Separatisten unterzeichneten Verträgen über Freundschaft und gegenseitigen Beistand, die am 22. Februar vom russischen Parlament ratifiziert wurden.
Kriegslügen
Am 24. Februar 2022 erklärte Putin der Ukraine den Krieg, den er in Orwellschem Neusprech als „spezielle Militäroperation“ bezeichnete. In seiner Fernsehansprache warf er der NATO und insbesondere den USA eine Reihe von Angriffskriegen gegen Jugoslawien, den Irak, Libyen und Syrien sowie die Unterstützung von Separatisten in Russland in den 1990er und 2000er Jahren vor. Er argumentierte, dass die Kriegstreiberei der NATO sowie ihre Osterweiterung die Sicherheit Russlands gefährdeten. Wörtlich sagte Putin: „Ein weiterer Ausbau der Infrastruktur des Nordatlantikbündnisses oder die anhaltenden Bemühungen, militärisch auf ukrainischem Gebiet Fuß zu fassen, sind für uns inakzeptabel.“ Zusammenfassend rechtfertigte Putin den russischen Großangriff auf die Ukraine als Präventivkrieg, als Befreiung der Ukraine von einem Neonazi-Regime und als humanitäre Intervention, um den angeblichen Genozid der Ukraine an ihrer russischsprachigen Bevölkerung zu beenden.
Tatsächlich wütete der russisch-ukrainische Krieg bereits seit 2014, als Russland als Reaktion auf den ukrainischen Staatsstreich gegen den pro-russischen Präsidenten Viktor Janukowitsch militärisch in der Ukraine intervenierte, was zur Annexion der Krim sowie zur Errichtung russischer Satellitenstaaten im Donbas führte. Zwar war die Absetzung Janukowitschs rechtswidrig und die Folge eines Anschlags unter falscher Flagge, dennoch rechtfertigte dies nicht die darauffolgende russische Invasion. Es gilt der Grundsatz „iniuria non excusat iniuriam“. Ein Unrecht rechtfertigt kein weiteres Unrecht. Weder hatte der Westen das Recht, militante Neonazis bei einem Staatsstreich zu unterstützen, der Dutzende unschuldiger Menschen das Leben kostete, noch hatte Russland das Recht, sich militärisch in ukrainische Angelegenheiten einzumischen und Regionen von der Ukraine abzuspalten.
Zudem ist es heuchlerisch, wenn Putin den ukrainischen Anschlag unter falscher Flagge während der Euromaidan-Proteste 2014 verurteilt, denn auch sein politischer Aufstieg wurde durch Anschläge unter falscher Flagge begünstigt, in die Putin als ehemaliger sowjetischer Geheimdienstoffizier und russischer Geheimdienstchef aller Wahrscheinlichkeit nach involviert war. Bei einer Serie von Sprengstoffanschlägen auf Wohnhäuser in Russland kamen im September 1999 mindestens 299 Menschen ums Leben – deutlich mehr als beim Maidanmassaker in der Ukraine. In der Folge der Anschläge profilierte sich Putin als effektiver Führer, der mit harter Hand die Ordnung und Sicherheit im Land wiederherstellte, indem er die politische Macht zentralisierte, bürgerliche Freiheiten im Namen der Sicherheit einschränkte und die separatistische Kaukasusrepublik Tschetschenien, die seit 1996 faktisch unabhängig von Russland war, mit extremer militärischer Gewalt und um den Preis zehntausender ziviler Opfer wieder unter russische Kontrolle brachte. Hinweise darauf, dass es sich bei den Bombenanschlägen von 1999 um Angriffe unter falscher Flagge handelte, finden sich im Buch Blowing Up Russia sowie im Dokumentarfilm Assassination of Russia. Beide erschienen 2002. Der Autor des Buches, Alexander Litwinenko, sowie der Finanzier des Films, Boris Beresowski, wurden allem Anschein nach vom russischen Geheimdienst ermordet. Alexander Lebed, der 1996 als Sekretär des russischen Sicherheitsrates den ersten Tschetschenienkrieg mit einem Friedensabkommen beendete, das Putin als Betrug an Russland bezeichnete, vermutete ebenfalls die russische Regierung hinter den Anschlägen. Lebed starb kurz darauf bei einem Hubschrauberabsturz, bei dem viele Sabotage vermuteten. Bemerkenswert ist auch, dass beispielsweise in den USA unzählige Bücher und Dokumentarfilme frei verfügbar sind, nach denen die Anschläge vom 11. September 2001 unter falscher Flagge durchgeführt wurden, wohingegen Blowing Up Russia und Assassination of Russia in Russland verboten sind. Eine deutschsprachige Analyse dieser in Russland verbotenen Inhalte erschien 2022 auf dem YouTube-Kanal Kompromist.
Als die russische Armee 2022 ihren Krieg gegen die Ukraine extrem eskalierte, waren im Donbas bereits etwa 14.000 Menschen getötet worden, darunter Soldaten und Zivilisten auf beiden Seiten, wobei zwei Drittel der Todesopfer in den besonders heftig umkämpften ersten beiden Kriegsjahren zu beklagen waren. Die im weiteren Verlauf des Krieges rückläufigen Todeszahlen widerlegen Putins Vorwurf des Völkermords an den russischsprachigen Ukrainern im Donbas durch die ukrainische Regierung.
Obwohl Russland den Krieg im Donbas begonnen hatte und zehntausende Russen, darunter zahlreiche Neonazi-Verbände, seit 2014 in der Ukraine kämpften, behauptete Putin, Russland habe „alles getan, um die Situation mit friedlichen politischen Mitteln zu lösen“. Die Zahl der Toten und Geflüchteten infolge der russischen Großoffensive ab 2022 – insbesondere auf Gebiete mit überwiegend russischsprachigen Ukrainern – übertraf schnell die Zahl der Opfer in den acht vorangegangenen Kriegsjahren, was zeigt, dass Russlands angeblicher Schutz der russischsprachigen Ukrainer den Betroffenen mehr Schaden als Nutzen brachte und eher der Ausweitung des Machtbereichs der russischen Regierung diente.
Putin rechtfertigte die russische Großoffensive mit Artikel 51 der UN-Charta, der sich auf das Recht auf individuelle oder kollektive Selbstverteidigung im Falle eines Angriffs auf einen UN-Mitgliedstaat bezieht. Die separatistischen Donbas-Republiken waren jedoch keine UN-Mitgliedstaaten – im Gegensatz zur Ukraine. Nach der UN-Charta hätte Russland, wenn überhaupt, die Ukraine bei der Verteidigung gegen die Separatisten unterstützen müssen, die nur dank russischer Hilfe ukrainisches Territorium besetzen konnten.
Ein ähnliches Szenario hatte sich bereits zuvor in Georgien abgespielt. Anfang der 1990er unterstützte Russland militante Separatisten in den georgischen Grenzregionen zu Russland. Auf die militärische Unterstützung folgte 2002 ein von Putin initiiertes Staatsangehörigkeitsgesetz, das Menschen in Separatistenregionen der ehemaligen Sowjetunion außerhalb Russlands den vereinfachten Erwerb der russischen Staatsbürgerschaft ermöglichte, womit die georgischen Separatistenregionen weiter russifiziert wurden. Nur wenige Monate nachdem Georgien und die Ukraine im Jahr 2008 zu NATO-Beitrittskandidaten erklärt wurden, versuchte das georgische Militär, die Separatistenregionen wieder unter seine Kontrolle zu bringen, doch Russland intervenierte erneut auf Seiten der Separatisten und drang dabei auch auf georgisches Territorium außerhalb der Separatistengebiete vor. Durch die russische Intervention behielten die Regionen ihre faktische Unabhängigkeit von Georgien und wurden wirtschaftlich, politisch und militärisch weiter in Russland integriert. Fast alle UN-Mitgliedsstaaten betrachten die georgischen Separatistengebiete nach wie vor als georgisches Territorium, das illegal von Russland besetzt ist.
Die russischen Kriege zur Unterstützung der Separatisten in Georgien und der Ukraine stärkten Putin ebenso wie die gewaltsame Niederschlagung der tschetschenischen Unabhängigkeitsbewegung in Russland, wie der deutsch-russische Politologe Andreas Umland bemerkte:
Ein wichtiger interner Faktor für den russischen Angriff auf die Ukraine ist die Tatsache, dass Putins verschiedene Kriege seit 1999 Quelle von Popularität, Integrität und Legitimität seiner undemokratischen Herrschaft waren. Die Besetzung, Unterwerfung und/oder Unterdrückung von Völkern wie den Tschetschenen, Georgiern und Ukrainern findet unter den durchschnittlichen Russen breite Unterstützung, was bei Analysen der gesellschaftlichen Grundlagen des russischen Autoritarismus manchmal übersehen wird. Die Unterstützung einfacher Russen für siegreiche militärische Interventionen – insbesondere auf dem Gebiet des ehemaligen Zaren- und Sowjetreichs – ist eine wichtige politische Ressource und soziale Basis des zunehmend autokratischen putinschen Regimes. […]
Russlands Angriff […] ist nicht nur ein revanchistischer Krieg eines ehemaligen imperialen Zentrums gegen seine einstige Kolonie, sondern wird auch von der russischen Innenpolitik angetrieben. Er ist eine Folge der Re-Autokratisierung Russlands seit 1999, die wiederum einem größeren regressiven Trend weltweiter Verbreitung von Autoritarismus folgt.
Ebenso opportunistisch wie die westlichen NATO-Imperialisten unterstützt oder bekämpft Putin Separatisten, je nachdem, ob es seinen politischen Interessen dient. Im Jahr 2013 kriminalisierte Putin sogar friedliche Aufrufe zum Separatismus innerhalb Russlands, obwohl Russland ein Vielvölkerstaat mit zahlreichen Minderheiten ist, die ein legitimes Interesse an politischer Unabhängigkeit haben, insbesondere in den Grenzregionen. Und so wie westliche Regierungschefs ihre Feinde in übertriebener Manier als Erzschurken darstellen, sind auch Putins ständige Hinweise auf Nazis in der Ukraine übertrieben – was nicht heißt, dass es in der Ukraine keine Neonazis gibt. Es gibt sie sehr wohl. Sie spielten eine wichtige Rolle beim Staatsstreich von 2014 und bei der Verteidigung gegen die anschließende russische Invasion. Die Ukraine hat jedoch daran gearbeitet, Neonazis und andere politische Extremisten aus ihren Streitkräften zu entfernen, so dass sogar die berüchtigte Asow-Brigade, die bei ihrer Gründung im Jahr 2014 zu 10 bis 20% aus Neonazis bestand, in eine Eliteeinheit mit Dutzenden jüdischen Kämpfern umgewandelt wurde.
Die stellvertretende US-Außenministerin Victoria Nuland, die vor dem Staatsstreich 2014 für die Unterstützung pro-westlicher Kräfte in der Ukraine zuständig war, setzte bewusst auf die rassistische und ultranationalistische Swoboda-Partei von Oleh Tjahnybok, die einen offen neonazistischen Hintergrund hat. In einem geleakten Telefongespräch äußerte Nuland die Hoffnung, dass Tjahnybok dem vom Westen unterstützten Arsenij Jazenjuk an die Macht verhelfen könnte. Swoboda hatte bei den Wahlen 2012 10% der Stimmen geholt und 2014 tatsächlich eine Regierungskoalition mit Jazenjuk gebildet. Bei allen Wahlen seit 2014 hat Swoboda jedoch kaum noch Stimmen erhalten und ist somit in der politischen Bedeutungslosigkeit verschwunden. Die Behauptung, die Ukraine werde von Neonazis regiert, wird auch dadurch konterkariert, dass Präsident Selenskyj Jude ist. Trotz der Präsenz von Neonazis in der Ukraine ist festzuhalten, dass es sich um eine Randgruppe handelt. Auch die Euromaidan-Proteste, die dem Staatsstreich 2014 vorausgingen, bestanden größtenteils aus politisch gemäßigten Bürgern, die für eine Verwestlichung eintraten.
Entgegen den Behauptungen Putins ist der Neonazismus in der Ukraine kein dominierendes Phänomen, weder in der Politik noch in der Armee noch in der Zivilgesellschaft. Darüber hinaus gibt es Neonazis in vielen Ländern, auch in Russland, wobei „Russlands Einsatz von Rechtsradikalen auf der Seite der Separatisten in den [Donbas-]Provinzen Donezk und Luhansk größere militärische und politische Auswirkungen hatte als die Beteiligung rechtsextremer ukrainischer Gruppen“ laut einer Untersuchung des russischen Politologen Wjatscheslaw Lichatschow. Besonders hervorzuheben sind Russitsch, die Russische Reichsbewegung und die Russische Nationale Einheit.
Im Kampf gegen den Kremlkritiker Alexei Nawalny setzte Moskau auf die Neonazi-Gruppe Russki Obraz. Kremlfunktionär Alexei Petrow, der in den sozialen Medien über Jahre Neonazipropaganda verbreitete, darunter Verweise auf Adolf Hitler und den Hitlergruß, war während des russisch-ukrainischen Krieges gemeinsam mit der russischen Präsidialkommissarin für Kinderrechte an der Entführung ukrainischer Kinder nach Russland beteiligt. Dmitri Utkin, Gründer der russischen paramilitärischen Gruppe Wagner, trug eine Tätowierung der Waffen-SS am Hals und einen Reichsadler auf der Brust. Denis Puschilin, der vor seiner politischen Karriere als Separatist im Donbas als Finanzbetrüger unzählige Russen und Ukrainer um ihr Vermögen brachte, verlieh 2022 einen Orden an einen Separatisten, der neonazistische Abzeichen an seiner Uniform trug.
Die Zwangsrekrutierung für den russischen Krieg gegen die Ukraine betrifft überproportional ethnische Minderheiten, was eindeutig rassistisch ist. Eine Untersuchung von Richard Arnold von der Muskingum Universität aus dem Jahr 2015 stellte zudem fest, „dass Russland für ethnische Minderheiten in der Tat das gefährlichste Land in Europa ist“:
Diese Daten machen Russland zum gewalttätigsten Land der ehemaligen Sowjetunion in Bezug auf ethnische Minderheiten und übertreffen bei weitem das nächstgefährlichere Land, die Ukraine, in der die Statistiken selbst unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Bevölkerungsgröße (etwa ein Drittel der russischen) viel niedriger sind. Im Jahr 2006 wurden in Russland beispielsweise 522 Menschen verprügelt und 66 bei rassistischen Straftaten getötet. Zum Vergleich: In der Ukraine wurden 12 Menschen verprügelt und zwei getötet. Im Jahr 2008 wurden in Russland 434 Menschen verprügelt und 97 getötet. Im selben Jahr wurden in der Ukraine 79 Menschen verprügelt und vier getötet[.] […] Während die rassistisch motivierte Gewalt seit ihrem Höhepunkt im Jahr 2008 zurückgegangen ist, sind Skinheads in Russland nach wie vor eine starke Kraft: 2012 gab es 187 Tote und 206 Verletzte […]. Rassistische Gruppen blühen in Russland immer noch auf und bilden einen wesentlichen Teil der gesellschaftlichen Unterstützung für Putins Neurussland-Politik […] in der Ostukraine […].
Putins ständiges Herumreiten auf ukrainischen Neonazis ist Gaslighting, um von russischen Neonazis abzulenken. Außerdem soll es wohl an den Krieg der Sowjetunion gegen Nazi-Deutschland erinnern und den sowjetischen Kampfgeist für den Krieg Russlands gegen die Ukraine neu entfachen. Der Kampf gegen „die faschistische dunkle Macht“ ist im Lied „Der heilige Krieg“ von 1941 verewigt, dem beliebtesten Lied im sowjetischen Rundfunk während des Zweiten Weltkriegs. Das Lied wird jedes Jahr in Moskau bei der Parade zum Gedenken an den sowjetischen Sieg über Nazi-Deutschland gespielt.
Putins Argument, die NATO habe Russland mit ihrer Osterweiterung betrogen, ist bestenfalls die halbe Wahrheit. Richtig ist, dass US-Außenminister James Baker dem sowjetischen Staatschef Michail Gorbatschow 1990 sagte, die NATO werde sich nicht nach Osten ausdehnen, wenn Gorbatschow der deutschen Wiedervereinigung zustimmt. Im Gegensatz zur Wiedervereinigung wurde die Frage einer NATO-Osterweiterung letztlich jedoch nicht vertraglich geregelt. Offensichtlich bestand die russische Regierung nicht darauf, den Verzicht auf eine NATO-Osterweiterung in einem verbindlichen Vertrag festzuhalten. Im Gegenteil: In der NATO-Russland-Grundakte von 1997 verpflichtete sich Russland zur „Achtung der Souveränität, Unabhängigkeit und territorialen Unversehrtheit aller Staaten sowie ihres naturgegebenen Rechtes, die Mittel zur Gewährleistung ihrer eigenen Sicherheit […] selbst zu wählen“. 1999 bekräftigte Russland im Istanbuler Dokument „das jedem Teilnehmerstaat [der OSZE] innewohnende Recht, seine Sicherheitsvereinbarungen einschließlich von Bündnisverträgen frei zu wählen oder diese im Laufe ihrer Entwicklung zu verändern“. Die NATO-Russland-Grundakte und das Istanbuler Dokument sind zwar keine Verträge im Sinne des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge, dennoch haben diese Dokumente mehr Gewicht als eine mündliche Aussage, die Jahre vor der Unterzeichnung dieser Dokumente getätigt wurde. Russlands explizite Ablehnung einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine kam erst nach der Machtübernahme Putins.
Darüber hinaus hat Russland die NATO mehr als einmal bedroht und getäuscht. 2007 setzte Russland die Umsetzung des Vertrags über konventionelle Streitkräfte in Europa aus, der Grenzen für die Aufrüstung in Europa bestimmt. Russland stellte sich damit einen Blankoscheck für eine militärische Aufrüstung aus. Bei der Zapad-Übung 2009 simulierte das russische Militär einen Angriff auf das NATO-Mitglied Polen. Zapad ist das russische Wort für Westen. Weitere Zapad-Übungen folgten 2013 und 2017, wobei Russland die Zahl der teilnehmenden Soldaten anscheinend zu niedrig angab, um keine ausländischen Beobachter einladen zu müssen, wie es das Wiener Dokument der OSZE vorsieht. Bei allen Zapad-Übungen wurden Angriffe auf Osteuropa geprobt.
Russische Offizielle haben seit langem betont, dass Russland eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine niemals tolerieren würde. Dennoch drängte der Westen die Ukraine beharrlich in diese Richtung, ohne ausreichende militärische Hilfe zu leisten, um einen russischen Angriff zu verhindern oder abzuwehren. Dies war eine fatale Situation, dennoch verfolgten die pro-westlichen Regierungen der Ukraine ihre NATO-Ambitionen stur weiter.
Unmittelbar nach der russischen Großoffensive im Februar 2022 stiegen sowohl Putins als auch Selenskyjs Zustimmungswerte sprunghaft an. Insofern war die Eskalation des Krieges für beide Präsidenten ein Segen. Mit einer geeinten Bevölkerung im Rücken verbot Selenskyj sofort 11 politische Parteien, darunter die größte Oppositionspartei. Außerdem schloss er die größten nationalen Fernsehsender zu einer Plattform namens United News zusammen. Putin erließ seinerseits Gesetze, die jegliche Kritik am Krieg unter Strafe stellen. Es ist sogar verboten, den Krieg überhaupt als Krieg zu bezeichnen und nicht wie der Kreml als „spezielle Militäroperation“. Alexei Gorinow, ein Mitglied der oppositionellen Solidarnost-Bewegung, wurde dafür zu sieben Jahren in einem Straflager verurteilt. Ein Artikel wie dieser wäre in Russland zweifellos kriminell und könnte auch in der Ukraine rechtliche Konsequenzen haben. Die Pressefreiheit in Deutschland lässt aktuell mehr Freiheiten zu, wobei sie nicht erst seit dem Verbot des Compact-Magazins unter keinem guten Stern steht.
Zusammenfassed ist festzustellen, dass ukrainische, russische und westliche Politiker gemeinsam für den Krieg in der Ukraine verantwortlich sind. Die postrevolutionären ukrainischen Regierungen kamen durch einen Anschlag unter falscher Flagge an die Macht und lehnten Separatismus selbst dort ab, wo er eindeutig den Willen des Volkes zum Ausdruck brachte, nämlich auf der Krim. Die russisch geführten militanten Separatisten im Donbas agierten gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung, die sie angeblich befreien wollten. Die russische Armee ist wiederholt unrechtmäßig in die Ukraine eingedrungen und hat den Krieg im Donbas mehrfach auf Seiten der Separatisten eskaliert. Damit hat die russische Regierung ihre Bereitschaft demonstriert, die Aufspaltung der Ukraine mit aller Gewalt zu erzwingen. Dennoch plante die ukrainische Regierung konsequent die militärische Rückeroberung der russisch kontrollierten Gebiete. Die westliche Korporatokratie bestärkte die Ukraine in diesem Kurs und provozierte damit sehenden Auges die russische Großoffensive im Jahr 2022, womöglich um wirtschaftlich und politisch vom Krieg zu profitieren.
Die auf allen Seiten zu beobachtende rücksichtslose Machtpolitik ist abscheulich. Politische Kräfte im Westen, in der Ukraine und in Russland haben bewusst auf Terror und Krieg gesetzt, um politisch voranzukommen und sich die Taschen zu füllen, bezahlt mit dem Blut des Volkes. Doch auch wenn alle Beteiligten eine Mitschuld tragen und der Westen weltweit die meisten Kriege der jüngeren Geschichte vom Zaun gebrochen hat, ist Russland in der Ukraine der Haupttäter. Der russisch-ukrainische Krieg ist ein russischer Eroberungsfeldzug nach einem vom Westen unterstützten Staatsstreich in der Ukraine.
Entgegen der landläufigen Meinung in den alternativen Medien war es auch nicht allein der britische Premierminister Boris Johnson, der 2022 ein Friedensabkommen zwischen Russland und der Ukraine verhinderte. Johnson mag solche Absichten gehabt haben, aber gescheitert ist der Friedensprozess auch an der russischen Reaktion auf das Istanbuler Kommuniqué, das die ukrainischen Vorschläge für einen sofortigen Frieden enthielt und weitgehend die bekannten russischen Forderungen erfüllte. Russland reagierte auf das Kommuniqué mit der zusätzlichen Forderung, im Falle eines erneuten Angriffs auf die Ukraine internationale Hilfe für die Ukraine mit einem Veto verbieten zu können. Diese Bedingung war für die Ukraine verständlicherweise inakzeptabel.
Gegenwärtig scheinen die Ukrainer gefangen in einem Revierkampf zwischen rivalisierenden Banden. Diese missliche Lage steht beispielhaft für den Versuch politischer Gruppierungen, allen Menschen die gleichen Präferenzen aufzuzwingen. Massenbewegungen wie der Euromaidan, die mehrheitlich von gutwilligen und politisch gemäßigten Bürgern getragen werden, können keine Abhilfe schaffen, wenn sie ihre Hoffnungen abermals auf politischen Zwang zur allgemeinen Durchsetzung von Partikularinteressen setzen und sich nicht vor Agents Provocateurs schützen. Um nicht im Konflikt der politischen Machtblöcke zerrieben oder von ihnen vereinnahmt zu werden, bedarf es echter Souveränität und Unabhängigkeit.
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Ob "öffentlich-rechtliche" oder "unabhängig-private" Medienformate ... stets gilt es aufmerksam "zwischen den Zeilen" zu lesen und den "dramaturgischen Schnitt" zu betrachten. Welche Botschaften soll der Beitrag vermitteln? Werden Behauptungen und Tatsachen subtil vermischt? Sind angebliche Fakten quellenbasiert nachprüfbar? Bleibt die Sprache sachlich gewaltfrei oder wirkt sie eher polarisierend spaltend? Gelten zu schützende Grundwerte für alle Menschen gleichermaßen? Die Doppelmoral meist regierungsnaher Berichterstattung ist leider unübersehbar. Gibt es richtige und falsche Kriegstote? Wann und wo werden Verbrechen benannt - oder verschwiegen? In welchem zeitlichen Kontext erscheinen und verschwinden nach-gerichtete Nachrichten. Warum, mit welchem Motiv, zu welchem Zweck? Erfahren wir nur, was wir erfahren sollen? Falls ja, ist es kaum verwunderlich, dass Menschen unterschiedlicher Kulturen und nationaler Regierungen auch unterschiedliche Sichtweisen auf das Geschehen in der Welt haben (müssen).
Das hier geschilderte Verständnis von "Demokratie", vorzufinden z.B. im politischen System der sog. USA, und "Autokratie" (wohl Russland und China, etc.), das "Weglassen" der geopolitischen Strategie der USA (gestürzt durch die entsprechenden Strategie-Papiere), das nicht nennen und interpretieren des WEF-Hintergrundes von V. Putin, und vor allem das vollkommene Ignorieren der geschichtl. Hintergründe, machen diese als "ausgewogen" daherkommende Analyse unglaubwürdig, und hinterlässt einen seltsamen "Geschmack".