Dialog über Russland
Im Zeitalter von Cancel Culture und Gesprächsverweigerung findet auf Manova eine kontroverse Diskussion über ein emotional aufgeladenes Thema auf zivilisierte Art und Weise statt. Das ist beachtlich.
Wie erwartet hat mein Artikel über russische Propagandalügen hohe Wellen geschlagen. Trotz überwiegend positiver Resonanz dürfte es einer der meistkritisierten Artikel auf Manova sein, wobei nur wenige sich die Mühe machten, dem Link zur Langfassung meines Artikels mit vielen weiteren Belegen und Hintergründen zu folgen, wie die Statistik auf Substack zeigt.
Trotz der Brisanz des Themas und des aufgeheizten gesellschaftlichen Gesprächsklimas ist es Felix Feistel gelungen, in seiner Replik auf meinen Artikel, die ebenfalls bei Manova erschien, sachlich zu bleiben. Unter diesen Umständen bin ich gerne bereit, das Gespräch fortzuführen, inhaltlich weiter in die Tiefe zu gehen und ebenfalls eine gesittete Diskussionskultur zu pflegen.
Butscha
Feistel verweist auf einen Artikel von Anti-Spiegel, der ukrainische Kriegsverbrechen in Butscha belegen soll. Thomas Röper behauptet in diesem Artikel, die Aussage des tschechischen Söldners Filip Siman vor einem tschechischen Gericht bedeutet, „dass es die ukrainischen Kräfte waren, die gemordet und vergewaltigt haben“.
In Wahrheit berichtete Siman von Vergewaltigungen durch russische Soldaten und deutete an, dass seine Einheit die russischen Soldaten dafür hingerichtet habe:
In seiner Zeugenaussage beschrieb Siman seine Zeit in der Ukraine sehr detailliert, einschließlich der Schrecken des Krieges, die er erlebte. So wurde beispielsweise auf dem Handy eines der festgenommenen russischen Soldaten ein Video gefunden, in dem sechs russische Soldaten die Mutter zweier Kinder vergewaltigen, die gezwungen wurden, dabei zuzusehen.
Auf die Frage des Richters, ob die festgenommenen Russen erschossen wurden, antwortete Siman: „Ihr Schicksal war das Ergebnis des Schicksals, das sie ihren Opfern bereitet haben. […] Wir waren die Polizei, wir waren das Gericht, wir waren das Erschießungskommando, als es darauf ankam.“ Er sagte auch, dass er mehrere Leben gerettet hat, worauf er stolz ist.
Siman gab zu, Wertgegenstände aus verlassenen Häusern gestohlen zu haben. Laut Zeugenaussagen soll er außerdem Leichen, die er in Butscha gefunden hatte, ihrer Wertsachen beraubt haben. Weder Siman noch andere Zeugen in seinem Prozess sprachen jedoch von Vergewaltigungen oder Morden an Zivilisten durch ukrainische Truppen oder proukrainische Söldner.
Russische Soldaten ermordeten hingegen nachweislich ukrainische Zivilisten in Butscha, wie in diesem Video (ab 19:01) und in diesem Video (ab 15:57) zu sehen ist. Zudem legt diese Audioaufnahme (ab 7:31) nahe, dass ein russischer Kommandeur zur Ermordung von Zivilisten aufrief.
Odesa
Feistel schreibt: „Die Folgen einer Untätigkeit seitens Russland kann man am Beispiel des Brandes im Gewerkschaftshaus in Odesa sehen. Damals hatten faschistische Verbände eine Gruppe von Gegnern des Maidans in das Gewerkschaftshaus getrieben und dieses dann angezündet.“
Fakt ist, am 2. Mai 2014 organisierten Fans der Fußballvereine Metalist Charkiw und Tschornomorez Odesa einen „Marsch der Einheit der Ukraine“ in Odesa, an dem rund 2.000 Fans und proukrainische Aktivisten teilnahmen, darunter auch Mitglieder des Rechten Sektors.
Zu jener Zeit bestand auf dem Kulikowo-Platz in Odesa bereits seit fast zwei Monaten ein prorussisches Protestcamp. Zu den dort vertretenen Gruppen gehörten die marxistisch-leninistische Borotba sowie die neonazistisch inspirierten Schwarzhunderter, die Slawische Einheit und die Odesa Druschina, deren militanter Flügel, die Odesa Brigade, auch im Donbas kämpfte.
In der Regel hielten sich mindestens mehrere hundert Personen im Camp auf. Laut Serhiy Rudyk, einem Mitglied der Odesa Druschina, erhielten die Aktivisten pro Person und Nacht 150₴ (~10€), wobei dieser Betrag später auf 50₴ reduziert wurde. Die Finanzierung kam angeblich aus Russland.
Der russische Neonazi Anton Rajewski von den Schwarzhundertern kam im März auf dem Kulikowo-Platz an. Neben einem Hakenkreuz zieren Tätowierungen der Naziparolen „Jedem das Seine“ und „Blut und Boden“ seinen Körper. Am 19. März berichtete Rajewski auf VKontakte: „Ich wurde von Kämpfern der Odesa Brigade abgeholt und zum Kulikowo-Platz gebracht, wo sich ein patriotisches Militärlager befindet. Mir wurden sofort ein Schild, ein Schlagstock und eine kugelsichere Weste ausgehändigt. Alles war so, wie ich es erwartet hatte.“
Knapp zwei Wochen später wurde Rajewski von den ukrainischen Behörden des Landes verwiesen. Zurück in Russland erklärte Rajewski in einer Videobotschaft: „Wir sind bereit, Blut zu vergießen, und wir werden es vergießen – das Blut unserer Feinde. […] [I]ch habe gezeigt, dass russische Nationalisten, russische Freiwillige, bereit sind, in die Ukraine zu gehen, und dass sie gehen, um die Interessen nicht nur der russischsprachigen Bevölkerung zu verteidigen, sondern auch – lasst uns die Dinge beim korrekten Namen nennen – des russischen Volkes.“
Russlands Präsident Putin behauptet regelmäßig, Odesa sei eine „russische Stadt“. Tatsächlich hatte Odesa seit den 1940ern stets eine ethnisch ukrainische Bevölkerungsmehrheit. Odesa ist überwiegend russischsprachig, gilt aber seit jeher als kosmopolitisch und ist definitiv keine Hochburg prorussischer Kräfte. 1991 stimmten 85% der Einwohner für die Unabhängigkeit der Ukraine von Russland.
Am 2. Mai 2014 griffen ca. 300 prorussische Aktivisten ca. 2.000 proukrainische Aktivisten beim „Marsch der Einheit der Ukraine“ an. Der Angriff der prorussischen Aktivisten auf eine zahlenmäßig weit überlegene Gruppe von Fußballfans und Mitgliedern des Rechten Sektors erscheint nur plausibel bei waffentechnischer und/oder taktischer Überlegenheit.
Laut einem Bericht von Human Rights Without Frontiers waren die prorussischen Aktivisten mit Schusswaffen, Schlagstöcken, Messern, Helmen und kugelsicheren Westen ausgerüstet. Sechs Personen wurden mutmaßlich von prorussischen Aktivisten erschossen, mehr als hundert Personen wurden bei den Zusammenstößen verletzt. Videos belegen, dass einige Polizisten prorussische Aktivisten schützten, als diese auf proukrainische Aktivisten schossen.
Nachdem die proukrainischen Aktivisten ein Feuerwehrauto unter ihre Kontrolle gebracht hatten, gelang es ihnen, die prorussischen Aktivisten unter Einsatz des Autos und des Wasserwerfers zu vertreiben. Die langsame Reaktion der Feuerwehr beim späteren Brand des Gewerkschaftshauses kann nicht mit der Entwendung des Feuerwehrautos erklärt werden, da es in der Millionenstadt Odesa selbstverständlich mehr als ein Feuerwehrauto gab.
Gegen 19:00 Uhr räumten die prorussischen Aktivisten ihr Protestcamp auf dem Kulikowo-Platz. Sie wurden nicht, wie Feistel schreibt, „in das Gewerkschaftshaus getrieben“, sondern zogen sich mit Schusswaffen und Molotowcocktails bewaffnet in Erwartung der Ankunft der proukrainischen Aktivisten auf dem Kulikowo-Platz in und vor das angrenzende Gewerkschaftshaus zurück, was bereits im Vorfeld geplant wurde:
[A]ktivisten hatten […] Barrikaden im Inneren des Gewerkschaftshauses errichtet mit Vorräten an Molotowcocktails und brennbaren Flüssigkeiten. […] [S]ie hatten im Vorfeld bewusst Menschen versammelt, um das Gebäude zu besetzen und zu verteidigen, mit Aufrufen nicht nur auf dem Platz vor dem Gebäude, sondern auch früher, zum Beispiel in sozialen Netzwerken. […]
Schon nach den ersten Zusammenstößen im Stadtzentrum wurden Menschen angerufen und gebeten, mit medizinischer Hilfe und anderen Gegenständen zu kommen. Zeugen haben auch berichtet, dass einigen Fahrgästen der Endhaltestelle der Straßenbahnlinie 18 gesagt wurde, dass sich eine Bombe in der Straßenbahn befinde und sie sich im Gewerkschaftshaus verstecken sollten.
Nachdem einer der Anführer der prorussischen Aktivisten, Anton Dawydtschenko, ca. 400 Personen in das Gewerkschaftshaus gelockt hatte, flüchtete er. Kurz darauf erreichten die proukrainischen Aktivisten den Kulikowo-Platz und zerstörten das verlassene Protestcamp.
Laut einer Untersuchung von Beteiligten beider Konfliktparteien bewarfen sich beide Seiten nun gegenseitig mit Molotowcocktails. Zusätzlich schossen die prorussischen Aktivisten von mehreren Positionen im zweiten und dritten Stock sowie vom Dach des Gewerkschafthauses auf die proukrainischen Aktivisten.
Als proukrainische Aktivisten durch einen Seiteneingang in das Gebäude eindrangen, warfen offenbar prorussische Aktivisten einen Molotowcocktail innerhalb des Gebäudes und vertrieben damit die Angreifer. Die prorussischen Verteidiger an der Vorderseite zogen sich nun vollständig in das Gebäude zurück und verbarrikadierten den Eingangsbereich mit Holzpaletten.
Eine Untersuchung des Forschungs- und Forensikzentrums des Innenministeriums in Mykolajiw ergab, dass das Feuer im Gewerkschaftshaus an fünf Stellen ausgebrochen war: im Eingangsbereich, in den beiden Treppenhäusern zwischen dem Erdgeschoss und dem ersten Stock, in einem Raum im ersten Stock sowie auf dem Treppenabsatz zwischen dem zweiten und dritten Stock. Laut der Untersuchung konnten die Brände – mit Ausnahme des Feuers im Eingangsbereich – nur durch Personen innerhalb des Gebäudes verursacht worden sein.
Feistel schreibt: „Jeder, der sich retten wollte, wurde erschossen oder brutal zu Tode geschlagen.“ Da über 300 Personen den Brand im Gewerkschaftshaus sowie die anschließende Evakuierung überlebten, wurde offensichtlich nicht jeder, der sich retten wollte, getötet. 32 Personen starben aufgrund des Feuers bzw. aufgrund der Rauchentwicklung im Gebäude, 7 beim Sprung aus dem Fenster und 3 erlagen im Krankenhaus ihren Verletzungen. Bei keinem der 42 Todesopfer sind Schussverletzungen belegt.
Tatsächlich ist belegt, dass zahlreiche Personen, die aus dem Gebäude flüchteten, verprügelt wurden. Es ist jedoch nicht belegt, dass Personen bei diesen Angriffen zu Tode kamen. Die Polizei schützte flüchtende prorussische Aktivisten mit einer Menschenkette. Darüber hinaus halfen proukrainische Aktivisten den prorussischen Aktivisten mit einem Gerüst und einer Leiter, sicher aus dem brennenden Gebäude zu entkommen, wie in diesem Video (ab 21:40) zu sehen ist.
In der Gesamtbetrachtung war die Tragödie im Gewerkschaftshaus von Odesa nicht die Folge russischer Untätigkeit, sondern russischer Subversion. Diese erfolgte nachweislich bereits in den 1990ern und wurde im September 2013 – zwei Monate vor Beginn der Maidanaufstände – unter der Leitung von Putins Chefideologen, Wladislaw Surkow, intensiviert.
Die Tragödie von Odesa ereignete sich nach der russischen Annexion der Krim im März und nach dem Beginn der russischen Invasion des Donbas im April. Es liegt auf der Hand, dass die monatelange Eskalation der russischen Aggression gegen die Ukraine Ressentiments schürte und die Wahrscheinlichkeit von Gewalt gegen prorussische Demonstranten erhöhte.
Das Protestcamp militanter prorussischer Aktivisten, die am 2. Mai 2014 Gewalt gegen proukrainische Aktivisten initiierten und dabei mutmaßlich sechs Menschen erschossen, bevor es zur Tragödie im Gewerkschaftshaus kam, war ein typisches Beispiel für Russlands hybriden Krieg gegen die Ukraine, insbesondere im Süden und Osten des Landes.
Donbas
Feistel schreibt: „Es fand 2014 [‥] keine ‚Invasion‘ in die Ostukraine statt. Die beiden Donbasrepubliken haben sich im Zuge der Maidanaufstände von der Ukraine abgespalten […].“
Tatsächlich erfolgte die Gründung der Donbasrepubliken nicht im Zuge der Maidanaufstände, sondern erst zwei Monate später, offenbar weil Russland zunächst mit der Annexion der Krim beschäftigt war.
Parallel zur Annexion der Krim finanzierte Russland prorussische Aktivisten, um Aufstände in der Südostukraine anzuzetteln. Dies geht aus abgehörten Gesprächen zwischen Putins Berater Sergej Glasjew, dem Gründer des Moskauer Instituts der GUS-Staaten, Konstantin Zatulin, und dem stellvertretenden Direktor des Instituts, Kirill Frolow, hervor. Zatulin bestätigte die Echtheit der Aufnahmen, sagte aber, sie seien aus dem Zusammenhang gerissen.
Halya Coynash von der Kharkiv Human Rights Protection Group schrieb zu den Aufnahmen:
Glasjew sagt eindeutig […], dass alle Aufstände den Anschein erwecken müssen, von den Einheimischen auszugehen, wobei es besonders wünschenswert ist, dass Kommunen usw. an Russland appellieren, zu intervenieren. Eines der Gespräche ist mit dem russischen Politiker Konstantin Zatulin, der davon spricht, verschiedenen Gruppen „wie versprochen“ Geldbeträge zu zahlen. […]
Aus den Aufnahmen geht eindeutig hervor, dass die Aktionen von Putins Berater Glasjew finanziert und koordiniert werden, gemeinsam mit Zatulin und Frolow [ein russischer Staatsangehöriger einer prorussischen Gruppe, die sich Union der orthodoxen Bürger der Ukraine nennt].
Dass es sich bei der Abspaltung der Donbasrepubliken um eine russische Invasion handelte, ist von den Separatisten selbst bezeugt und aufgrund der Faktenlage evident, wie ich in der Langfassung meines Artikels im Abschnitt „russische Separatisten“ ausführlich belegte:
Anfang März 2014 versuchte Pawel Gubarew, ein Ukrainer aus Donezk mit einer Vergangenheit in der neonazistischen Partei Russische Nationale Einheit, einen „Volksaufstand“ in Donezk anzuzetteln und erklärte sich selbst zum „Bürgermeister des Volkes“. Der besagte Aufstand und die Idee, dass es einen „Volksbürgermeister“ geben müsse, lehnten sich eng […] an das Szenario an, das von Putins Berater Sergej Glasjew vorangetrieben und üppig finanziert wurde.
Gubarews Aufstand scheiterte, und selbst das Auftauchen sogenannter „Touristen“ – stämmige Russen, die geholt wurden, um die Unterstützung zu leisten, die sie von den einheimischen Ukrainern nicht bekommen konnten – verfehlte das Ziel Moskaus. Erst als Igor Girkin [Codename Strelkow], ein russischer „ehemaliger“ FSB-Offizier, und seine schwer bewaffneten und ausgebildeten Männer […] in Slawjansk eintrafen, fielen Teile des Donbas in die Hände der russischen bzw. russisch kontrollierten Kämpfer.
Erwähnenswert ist, dass sich Gubarew auch einer immer größer werdenden Zahl von Russen – oder, wie er, prorussischen ukrainischen Bürgern – angeschlossen hat, die […] jede Vorspiegelung eines „Bürgerkriegs“ im Donbas fallen gelassen haben […]. In einem Interview mit Maxim Kalaschnikow […] erklärte Gubarew ganz klar, dass es ohne die russische Beteiligung keine selbsternannte Donezker Volksrepublik gegeben hätte […]. Es war Girkin (und seinen schwer bewaffneten Männern) gelungen, „den Aufstand aus einem gewöhnlichen, unbewaffneten und zahnlosen Straßenprotest herauszuziehen“.
Offengelegte E-Mails von Wladislaw Surkow, den Putin bereits vor den Maidanaufständen zum Leiter des russischen Programms zur Russifizierung der Ukraine ernannte, bestätigen ebenfalls, dass Russland den Separatismus im Donbas von langer Hand vorbereitete:
Die E-Mails enthüllen die Details der täglichen Operationen Russlands zur Destabilisierung der Ukraine. Sie beschreiben insbesondere, wie der Kreml die Schwächen der Ukraine erforschte, „Insider“ suchte, die dabei helfen konnten, solche Schwächen sowie lokale Gruppen zu identifizieren, die dabei helfen würden, diese Schwächen auszunutzen, und heimlich Programme finanzierte, die darauf abzielten, die Ukraine zu spalten. Er unterstützte lokale Gruppen, die im Wesentlichen Zuschussanträge für Aktivitäten eingereicht hatten, die bestehende Konflikte verschärfen und neue hervorrufen, Proteste anregen, Angst, Verwirrung und Misstrauen verbreiten und unter dem Deckmantel vorgetäuschter zivilgesellschaftlicher Aktivitäten die Illusion einer Unterstützung der ukrainischen Bevölkerung für den Föderalismus und/oder Russland erzeugen sollten. Die E-Mails deuten darauf hin, dass der Kreml und seine Agenten eng mit den „Zuschussempfängern“ zusammenarbeiteten, den Erfolg der einzelnen Maßnahmen analysierten und künftige Pläne je nach Entwicklung der Situation änderten.
Alexander Schuchkowski, ein Russe der neonazistischen Russischen Reichsbewegung, schrieb: „Strelkow [Igor Girkin] und seine Krim-Kompanie waren die erste Gruppe von Freiwilligen, die die russische Grenze zum Donbas überquerte. Sie bildeten den Kern der Slawjansker Garnison und später der Streitkräfte der Donezker Volksrepublik.“
Girkin gab zu, „ dass die ersten Schüsse und damit die Gewalt im Donbas tatsächlich von seinen Männern provoziert wurden“. Wörtlich sagte er: „Ich bin derjenige, der den Krieg ausgelöst hat.“
Schuchkowski kämpfte an der Seite von Girkin und organisierte laut eigener Aussage „den Zustrom russischer Freiwilliger in den Donbas“, darunter zahlreiche Neonazi-Verbände.
Feistel schreibt: „Russland schickte zur Unterstützung gegen die [ukrainischen] neonazistischen Bataillone Waffen und Soldaten, um die westlichen Angriffe auf das Land zurückzuwerfen.“
Tatsächlich wurde die Gewalt im Donbas nicht vom Westen, sondern von Russland initiiert. Ukrainische Neonazis waren die ersten, die auf die russische Invasion reagierten, weil die offiziellen ukrainischen Sicherheitskräfte offenbar aus Angst vor einer russischen Großoffensive zunächst untätig blieben.
Es dauerte eine Weile, bis das ukrainische Militär gegen die Separatisten vorging, aber bis August 2014 hatte die Ukraine einen Großteil der Separatistengebiete zurückerobert. Dann griff die russische Armee mehrmals auf ukrainischem Territorium ein, was den Separatisten zu entscheidenden Siegen im August 2014 bei Ilowajsk sowie im Februar 2015 bei Debalzewe verhalf, mit denen die ukrainische Regierung zur Unterzeichnung der Minsker Verträge gezwungen wurde.
Die direkte russische Militärintervention „nahm die Form von Vorstößen mehrerer bataillonsgroßer Einheiten an“ und ist belegt durch „Berichte von Separatisten, Videos von russischen Militärkonvois, Videos von gefangen genommenen russischen Soldaten und Ausrüstungsgegenständen, Berichte aus erster Hand von […] Augenzeugen sowie veröffentlichte Satellitenbilder von russischen Militärfahrzeugen auf der ukrainischen Seite der Grenze“. Zudem starben zu jener Zeit laut offiziellen russischen Angaben viele Soldaten im Rahmen einer nicht näher bezeichneten Sondermission „an einem Ort der vorübergehenden Versetzung“.
Fakt ist, die Abspaltung der Donbasrepubliken von der Ukraine erfolgte von Beginn an mit russischer Hilfe. Russland hat den Krieg im Donbas begonnen und die russische Armee hat auf ukrainischem Territorium auf Seiten der Separatisten interveniert. Der Krieg im Donbas war somit eine russische Invasion, ein hybrider Krieg, der in verschiedenen Phasen erfolgte. Wie ich in der Langfassung meines Artikels belegte, hat Russland die Abspaltung der Südostukraine bereits lange vor den westlich unterstützten Maidanaufständen geplant und vorbereitet.
Feistel schreibt: „Eine Abspaltung dieser Regionen von der Ukraine sowie ein Beitritt zur russischen Föderation musste [‥] gar nicht erzwungen werden. Es bedurfte lediglich der Möglichkeit einer Volksabstimmung. Dass diese zugunsten Russlands ausgehen würde, war von Anfang an klar.“
Tatsächlich zeigten ausschließlich die von russisch kontrollierten Militärdiktaturen durchgeführten „Volksabstimmungen“ eine Zustimmung der Bevölkerung zur Abspaltung von der Ukraine. In Donezk lag die Zustimmung im Mai 2014 angeblich bei 89%, in Luhansk bei 96%.
Alle wissenschaftlichen Untersuchungen über das Meinungsbild im Donbas widersprechen diesen Zahlen, wie ich in der Langfassung meines Artikels gezeigt habe.
Laut einer Umfrage des Donezker Instituts für Sozialstudien und politische Analysen vom März 2014 lehnten 77% der Bürger von Donezk, der größten Stadt im Donbas, die separatistische Übernahme von Verwaltungsgebäuden ab. Nur 26,5% befürworteten prorussische Demonstrationen.
Laut einer Umfrage des US-amerikanischen Pew Research Center vom April 2014 wollten 70% der Ostukrainer sowie 58% der russischsprachigen Ostukrainer die territoriale Integrität der Ukraine bewahren. Diese Umfrage kann nicht als westliche Propaganda abgetan werden, da sie auch ergab, dass 91% der Krimbewohner die Abstimmung über die Abspaltung der Krim für frei und fair hielten und 88% sich dafür aussprachen, dass die Regierung in Kyjiw das Ergebnis respektieren solle.
Das Internationale Soziologieinstitut in Kyjiw führte zwischen April und Mai 2014 eine weitere Umfrage durch. Demnach befürworteten 30,9% der Menschen im Donbas eine Abspaltung der Region von der Ukraine oder einen Anschluss an Russland. 58,5% wollten, dass die Ukraine geeint bleibt, wobei die Mehrheit innerhalb dieser Gruppe mehr Autonomierechte für den Donbas innerhalb einer geeinten Ukraine befürwortete.
Kritiker mögen hinter der Umfrage des Internationalen Soziologieinstituts in Kyjiw ukrainische Propaganda vermuten, aber die Umfrage wurde von Iwan Katschanowski durchgeführt, der das Maidanmassaker als ukrainischen Anschlag unter falscher Flagge entlarvte und daher sicher kein Propagandist der ukrainischen Regierung ist.
Laut einer Umfrage des Internationalen Republikanischen Instituts aus dem Jahr 2017 sprachen sich im ukrainisch kontrollierten Teil des Donbas nur 4% für eine Abspaltung der Separatistengebiete aus. Diese Umfrageergebnisse wurden durch Untersuchungen des Berliner Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien aus den Jahren 2016 und 2019 bestätigt. Demnach sprachen sich 2016 im ukrainisch kontrollierten Donbas 7,6% der Befragten für eine Abspaltung der Separatistengebiete von der Ukraine aus, 2019 waren es nur noch 4,6%.
In den Separatistengebieten selbst waren die Zahlen deutlich höher. 44,5% sprachen sie 2016 für eine Abspaltung von der Ukraine aus, 2019 waren es 45,5%. Dennoch gab es somit auch fünf Jahre nach Gründung der Volksrepubliken in diesen Gebieten keine Mehrheit für eine Abspaltung von der Ukraine.
Die Bewohner der Separatistengebiete sprachen sich klar für eine Dezentralisierung der politischen Macht innerhalb der Ukraine und mehr Autonomie für den Donbas aus, wollten sich aber nicht von der Ukraine abspalten oder Teil Russlands werden, ganz im Gegensatz zu dem, was die von Russland kontrollierten Separatistenführer anstrebten.
Kritiker mögen hinter der Untersuchung des Berliner Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien westliche Propaganda vermuten, aber sie bestätigte auch, dass die Selbstidentifikation der Menschen im ukrainischen Donbas als ukrainische Staatsbürger zwischen 2016 und 2019 deutlich abgenommen hat, was sicher nicht im Sinne der ukrainischen oder westlichen Propaganda ist.
Zudem bestätigte die Untersuchung, dass die Bewohner der Separatistengebiete sich ethnisch und sprachlich eher als russisch denn als ukrainisch sahen. In der Frage der Staatsbürgerschaft war es jedoch umgekehrt, wobei die größte Gruppe sich weder als ukrainische noch als russische Staatsbürger identifizierte, sondern als gemischt ukrainisch-russisch und als Bürger des Donbas.
Wenn man argumentieren will, dass all diese Umfragen parteiisch sind, müsste man erklären, warum sie dem westlichen Narrativ in vielen Punkten widersprechen. Wie plausibel ist es, dass all diese verschiedenen Quellen sich allein bei der ganz speziellen Frage nach der Haltung der Donbasbevölkerung zum Separatismus verschworen haben, in anderen Fragen aber nicht?
Tatsächlich spiegeln die Umfrageergebnisse der verschiedenen Institute die beobachtbaren Fakten wider. Russische Paramilitärs, reguläre Soldaten sowie Militär- und Politikberater waren die treibenden Kräfte des Separatismus im Donbas. Ohne russische Hilfe wären die Separatistenrepubliken weder entstanden noch hätten sie überlebt.
Insbesondere der militante Separatismus im Donbas war größtenteils kein genuin ukrainisches Phänomen, ebenso wenig wie auf der Krim. Auf der Krim gab es jedoch von Anfang an eine stärkere russische Militärpräsenz, einen Komplettverzicht auf Widerstand seitens der ukrainischen Sicherheitskräfte und eine überwiegende Zustimmung der Bevölkerung zum Separatismus, auch wenn die angebliche Zustimmung von 97% beim Referendum 2014 zu hoch gegriffen sein dürfte. 1991 stimmten 54% der Krimbewohner für die Unabhängigkeit der Ukraine von Russland. Dies war die niedrigste Zustimmungsrate aller Regionen der Ukraine.
Ein weiteres Beispiel für ein russisches Scheinreferendum findet sich in der südukrainischen Provinzhauptstadt Cherson. Angesichts ausufernder russischer Kriegsverbrechen während der russischen Besatzung kam es immer wieder zu proukrainischen Demonstrationen, die von den russischen Besatzern gewaltsam aufgelöst wurden. Zur Legitimation der russischen Herrschaft wurde 2022 ein Scheinreferendum abgehalten, bei dem angeblich 87% für einen Anschluss an Russland stimmten. Nur zwei Monate nach der formellen Annexion durch Russland zog sich die russische Armee jedoch aus Cherson zurück, was die Einwohner mit einer Siegesfeier zelebrierten. 1991 stimmten 90% der überwiegend russischsprachigen Einwohner der Region Cherson für die Unabhängigkeit der Ukraine von Russland.
Maidan-Finanzierung
Feistel schreibt, dass es sich beim Euromaidan „um eine westliche Farbrevolution handelte, in welche allein die USA nach Aussagen von Victoria ‚Fuck the EU‘ Nuland 5 Milliarden Dollar investiert haben“.
Bemerkenswerterweise betrug das gesamte Militärbudget der Ukraine 2014 lediglich 3 Milliarden Dollar. Wie plausibel ist es, dass die USA fast das Doppelte allein in die dreimonatigen Maidanaufstände investierten?
Tatsächlich handelte es sich bei den 5 Milliarden laut Nuland um breit gefächerte Investitionen der USA, die zwischen 1991 und 2014 getätigt wurden. Sie betrafen politische, wirtschaftliche, infrastrukturelle und kulturelle Projekte, die auf eine Verwestlichung der Ukraine abzielten.
Auch Russland investierte nach dem Fall der Sowjetunion Milliarden in die Ukraine, ebenfalls mit dem Ziel, den eigenen Einfluss auf die Ukraine auszubauen. Hervorzuheben sind die Aktivitäten von Wladislaw Surkow und des Instituts der GUS-Staaten, der Freundschaftsvertrag zwischen Putins Partei Einiges Russland und Wiktor Janukowitschs Partei der Regionen sowie milliardenschwere russische Gassubventionen. Allein während der Maidanaufstände investierte Russland 3 Milliarden Dollar in die Ukraine, um die Janukowitsch-Regierung zu stabilisieren.
Selbstverständlich förderte der Westen die Maidanaufstände. Richtig groß wurde der Euromaidan jedoch nicht aufgrund westlicher Finanzierung, sondern weil Ukraines Präsident Wiktor Janukowitsch im November 2013 die wenigen verbliebenen Aktivisten der bis dahin eher überschaubaren Maidandemonstrationen mit unverhältnismäßiger Polizeigewalt räumen ließ. Erst danach strömten Hunderttausende auf den Maidan.
Beginn der russischen Großoffensive
Feistel schreibt, die russische Großoffensive im Februar 2022 war eine Konsequenz daraus, „dass Selenskyj noch kurz zuvor ankündigte, das Budapester Memorandum aufkündigen zu wollen“ und dass „die ukrainische Regierung in Kyjiw einen großangelegten Angriff auf die Ostukraine“ vorbereitete. Feistel schreibt: „Erst das brachte Putin dazu, nach acht Jahren die beiden Volksrepubliken als eigenständige Staaten anzuerkennen […].“ Dies würde zudem erklären, „warum in den Tagen vor dem Ausbruch des Krieges westliche Geheimdienste verkündeten, Russland würde bald angreifen“.
Selenskyj machte seine Ankündigung zum Budapester Memorandum am 19. Februar 2022. Die russische Anerkennung der Volksrepubliken bahnte sich jedoch bereits vier Tage vorher an. Am 15. Februar brachte die Kommunistische Partei Russlands einen entsprechenden Gesetzesentwurf ins Parlament ein, der die im Budapester Memorandum festgeschriebene Achtung der Grenzen der Ukraine verletzt. Es war klar, wenn dieses Gesetz verabschiedet wird, greift Russland an.
Genau so passierte es auch. Erst kam der Gesetzentwurf vom 15. Februar, dann folgten Spekulationen über einen bevorstehenden russischen Angriff sowie eine beiderseitige Eskalation des Artilleriefeuers zwischen der Ukraine und den Donbasrepubliken, dann folgten Selenskyjs Aussagen zum Budapester Memorandum.
Putin unterzeichnete das Gesetz zur Anerkennung der Donbasrepubliken am 21. Februar. Darauf folgte die Ankündigung der Entsendung russischer Truppen in die Donbasrepubliken gemäß den mit den Separatisten unterzeichneten Verträgen über Freundschaft und gegenseitigen Beistand, die das russische Parlament am 22. Februar ratifizierte. Der Aufmarsch russischer Truppen an der ukrainischen Grenze und die Planung der Invasion hatten selbstverständlich einen längeren Vorlauf.
Feistel schreibt, „die beiden Volksrepubliken als eigenständige Staaten anzuerkennen […] und Beistandsverpflichtungen zu unterschreiben“ sei „ein Argument gegen den russischen Eroberungswillen“.
Tatsächlich legitimierte Putin die Eroberung ukrainischer Gebeite mit der Anerkennung der beiden Volksrepubliken und der Unterzeichnung der Beistandsverpflichtungen. Wörtlich sagte Putin am 24. Februar 2022: „[I]n Ausführung der Verträge über Freundschaft und gegenseitigen Beistand mit der Volksrepublik Donezk und der Volksrepublik Luhansk, die […] am 22. Februar ratifiziert wurden, habe ich beschlossen, eine spezielle Militäroperation durchzuführen.“
Feistel schreibt, die Beistandsverpflichtungen seien „der Grund, weshalb die russische Regierung sich auf Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen (UN) beziehen kann“. Feistel behauptet: „Artikel 51 […] ermöglicht es Staaten, zur Selbstverteidigung auf militärische Mittel zurückzugreifen und dafür auch die Unterstützung anderer Staaten anzufordern. Dazu müssen diese Staaten nicht Mitglieder der UN sein.“
Tatsächlich gilt „das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung“ laut Artikel 51 nur „im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen“. Die separatistischen Donbasrepubliken waren jedoch keine UN-Mitgliedstaaten – im Gegensatz zur Ukraine. Nach der UN-Charta hätte Russland, wenn überhaupt, die Ukraine bei der Verteidigung gegen die Separatisten unterstützen müssen, die nur dank russischer Hilfe ukrainisches Territorium besetzen konnten.
Die Ukraine plante bereits seit Jahren offen eine militärische Rückeroberung des Donbas. Russland war der Ukraine bei der Planung und Ausführung des Krieges jedoch voraus. Die russische Invasion der Ukraine erfolgte vor der ukrainischen Invasion der Separatistenregionen im Donbas.
Als die Ukraine drohte, die Separatistenregionen militärisch zurückzuerobern, zog Russland zunächst seine Truppen an der Grenze zur Ukraine zusammen. Dann folgte das russische Gesetz zur Anerkennung der Donbasrepubliken als souveräne Staaten, um die russische Offensive gegen die Ukraine zu legitimieren, eine Rückeroberung der Separatistenregionen durch die Ukraine zu verhindern und sowohl die Donbasrepubliken als auch weitere Regionen der Ukraine offiziell Russland einzuverleiben.
Propaganda
Über die Berichterstattung der russischen Medien zur Großoffensive gegen die Ukraine schreibt Feistel: „Erst nachdem Putin seine ersten Erklärungen […] abgegeben hatte, löste sich die Ratlosigkeit der Medien auf.“
Putin gab seine ersten Erklärungen um 5 Uhr Moskauer Zeit am 24. Februar 2022 ab, am ersten Tag der russischen Großoffensive. Somit hielt „die Ratlosigkeit der Medien“ offenbar nicht lange an.
Feistel schreibt, dass die russischen Medien „im Vorfeld nicht informiert wurden“, was „eine denkbar schlechte Propagandastrategie“ sei. Feistel schreibt: „Man sollte doch meinen, dass die Regierung ihre Medien auf den Einmarsch vorbereitet.“
Tatsächlich ist es aus militärtaktischen Gründen nicht sinnvoll, Informationen über einen bevorstehenden Angriff im Vorfeld zu streuen. Außerdem ist es im Sinne der Propaganda, dass die Zuschauer nicht den Eindruck bekommen, die Medien hätten von der Großoffensive gewusst, denn das würde bestätigen, dass die Regierung sie von langer Hand geplant hat. Sollen die Medien das Regierungsnarrativ etwa verkünden oder Krieg erklären, noch bevor Putin es tut?
Das Royal United Services Institute kam zu dem Schluss, dass nur wenige in den Angriffsplan eingeweiht waren:
Diese Pläne wurden von einer sehr kleinen Gruppe von Beamten ausgearbeitet, und die Absicht wurde von Putin gelenkt. Viele Beamte, die Teile der Vorbereitungen durchführten, wussten nichts von der allgemeinen Absicht. Russische Militärangehörige – bis hin zu stellvertretenden Leitern von Abteilungen innerhalb des russischen Generalstabs – wussten bis Tage vor der Invasion nichts von der Absicht, in die Ukraine einzumarschieren und sie zu besetzen, und taktische Militäreinheiten erhielten erst Stunden vor ihrem Einmarsch in die Ukraine Befehle.
Nach Beginn der Großoffensive haben die russischen Medien das offizielle Regierungsnarrativ sofort vollumfänglich übernommen, inklusive der Sprachregelung, nach der es sich beim Krieg um eine „spezielle Militäroperation“ handelt. Eilfertiger geht es nicht. Eine Medienlandschaft, die jederzeit bereit ist, auf Kommando zu hüpfen, ist stets perfekt vorbereitet.
Rückzug der russischen Armee aus der Nordukraine
Feistel schreibt: „Hätte Putin tatsächlich die ihm unterstellten Eroberungsfantasien, hätte seine Armee außerdem 2022 nach Kyjiw ziehen und die Stadt besetzen können. Die Truppen waren bereits auf dem Weg dorthin und hätten ihren Weg einfach fortsetzen können. Zurückgezogen wurden sie aufgrund der Friedensverhandlungen in Istanbul.“
Tatsächlich wurde der russische Vormarsch durch Nachschubprobleme und den ukrainischen Widerstand so stark geschwächt, dass Russland einen Monat lang vergeblich versuchte, Kyjiw einzunehmen. Obwohl die russische Armee bereits vor den Toren der Stadt stand und versuchte, in diese einzudringen, konnte sie ihren Weg offensichtlich nicht „einfach fortsetzen“, sonst hätte sie es getan. Es wurde versucht, aber nicht geschafft.
Laut der bereits erwähnten Untersuchung des Royal United Services Institute führte die Geheimhaltung selbst innerhalb der russischen Kommandostruktur im Vorfeld der Großoffensive dazu, dass viele Schwachstellen des Angriffsplans nicht entdeckt und viele Vorbereitungen nicht getroffen wurden:
Dies trug zwar dazu bei, eine operative Überraschung zu erzielen, was zweifellos beabsichtigt war, aber der winzige Personalbestand trug zu einer Reihe falscher Annahmen bei, die offenbar nie in Frage gestellt wurden. Die Tatsache, dass sich die Russen überforderten hinsichtlich der Anzahl der in Angriff genommenen Achsen, der geringen Größe der für viele Aufgaben eingesetzten Truppen und des Versäumnisses, alle Eventualitäten im Vorhinein angemessen zu berücksichtigen, ist ein Hinweis darauf, dass viele, die mit ihren technischen Einschätzungen zur Planung beitrugen, nicht vollständig über den Gesamtzusammenhang unterrichtet waren.
Die siegessicheren russischen Soldaten stießen auf erbitterten ukrainischen Widerstand. Mit Guerillataktiken fügten reguläre und irreguläre ukrainische Truppen den Angreifern großen Schaden zu:
[R]ussische Soldaten riefen bereits an, um in Kyjiwer Restaurants zu reservieren. Konvois der russischen Nationalgarde führten Schilde und Knüppel mit sich, die gegen aufständische Zivilisten in Kyjiw und Charkiw eingesetzt werden sollten. Viele russische Einheiten waren sich ihres leichten Sieges so sicher, dass sie für Paraden in Kyjiw ihre zeremoniellen Uniformen dabei hatten.
Die Invasionskonvois zogen sich über viele Kilometer auf ukrainischen Straßen durch die Wälder. Und hier wandten das ukrainische Militär und zahlreiche Paramilitärs eine der einzig möglichen Taktiken an, die im Moment zur Verfügung standen – die mobile Verteidigung. Kleine ukrainische Einheiten, die durch Wälder gedeckt und mit vom Westen bereitgestellten Panzerabwehrwaffen wie Javelins und NLAWs bewaffnet waren, griffen diese Konvois an, die plump und verwundbar waren. […]
[N]ach Angaben des ukrainischen Geheimdienstes kamen von fast 30 taktischen Bataillonsgruppen (BTGs), die Kyjiw von Osten her angreifen sollten, aufgrund des heftigen Widerstands im Nordosten der Ukraine nur sechs oder sieben durch. […] Ende März hatte Russland nach Schätzungen der NATO bereits etwa 40.000 Opfer zu beklagen, darunter zwischen 7.000 und 15.000 Gefallene. Das ist die höchste Zahl an russischen Todesopfern innerhalb eines so kurzen Zeitraums seit dem Zweiten Weltkrieg.
Darüber hinaus bestätigten internationale Beobachter anhand von Fotos und Videos die Beschädigung oder Zerstörung von rund 60 Panzern, Flugabwehrsystemen, Hubschraubern, Versorgungslastwagen und Zügen durch Angriffe mit Bayraktar TB2-Drohnen. Erst im späteren Verlauf des Krieges entwickelte Russland eine wirksame elektronische Luftabwehr, die die Bedrohung durch TB2 praktisch komplett ausschaltete.
Von entscheidender Bedeutung für den Ausgang des Krieges war auch die Schlacht um den Flughafen Kyjiw-Hostomel. Der russische Plan, den Flughafen als Luftbrücke für eine schnelle Eroberung der ukrainischen Hauptstadt zu nutzen, wurde von den zahlenmäßig unterlegenen ukrainischen Truppen vereitelt.
Die Kämpfe dauerten nur vom 24. auf den 25. Februar und endeten mit einem russischen Sieg. Dennoch leisteten die ukrainischen Truppen genug Widerstand, um einen großen Teil der Landebahn zu zerstören, 18 russische Transportflugzeuge vom Typ Iljuschin IL-76 zur Umkehr zu zwingen und die Nutzung des Flughafens als Luftbrücke größtenteils zu verhindern.
Dennoch versuchte Russland einen Monat lang, Kyjiw einzunehmen. Während der heftigen Kämpfe mit Zehntausenden Soldaten auf beiden Seiten zerstörten die Ukrainer einen Staudamm nördlich von Kyjiw, wodurch der russische Nachschub in der Region Irpin überflutet wurde.
Die russische Armee wurde in der Nordukraine nicht in dem Maße besiegt, dass sie keine Chance gehabt hätte, länger in der Region zu bleiben und den Krieg dort fortzusetzen. Der Rückzug erfolgte nicht aufgrund einer vernichtenden Niederlage, sondern aufgrund einer Kosten-Nutzen-Abwägung unter Berücksichtigung der Erfordernisse anderer Kriegsschauplätze.
Ziel des Angriffs auf Kyjiw war der Sturz der Regierung. Dieses Ziel wurde nicht in der vorgesehenen Zeit und mit den vorgesehenen Kräften erreicht. Die Verluste, die logistischen Probleme und der ukrainische Widerstand waren stärker als erwartet. Eine weitere Besetzung der Region in der Hoffnung, die Regierung doch noch militärisch zu stürzen, war mit zu hohen Kosten und Risiken bei zu geringen Erfolgsaussichten verbunden. Insofern war es aus russisch-imperialistischer Sicht eine kluge Entscheidung, die Armee aus der Region Kyjiw abzuziehen und sich stattdessen auf die Eroberung und Besetzung der Landbrücke zur Krim im Südosten der Ukraine zu konzentrieren, was dann auch als nächstes geschah.
Der Rückzug aus der Region Kyjiw aus rationalen militärtaktischen Gründen ist eher plausibel als ein Rückzug „aufgrund der Friedensverhandlungen in Istanbul“, wie von Feistel behauptet. Wer einen Gegner dazu bringen will, Forderungen zu akzeptieren, braucht ein Druckmittel. Dieses Druckmittel in Form der militärischen Besetzung der Nordukraine und der drohenden Eroberung von Kyjiw aufzugeben, noch bevor die Ukraine die russischen Forderungen unterzeichnet, ist unsinnig. Tatsächlich hatte die russische Besetzung der Nordukraine einfach zu wenig militärischen Nutzen.
Im Krieg wird die Akzeptanz imperialistischer Forderungen mit Gewalt erzwungen, nicht durch Zurückweichen erhofft, insbesondere angesichts der für die Ukraine komplett inakzeptablen russischen Forderung, im Falle eines erneuten russischen Angriffs internationale Hilfe für die Ukraine per Veto verbieten zu können. Zudem stellte Russland diese unfassbare Forderung erst, nachdem die russischen Truppen die Nordukraine bereits verlassen hatten, unmittelbar vor der russischen Offensive im Donbas.
Wäre es der russischen Armee möglich gewesen, Kyjiw „einfach“ zu besetzen, hätte sie es gemacht. Zumindest hätte Putin von der Ukraine die Annahme der russischen Forderungen verlangen und im Weigerungsfall mit der Eroberung Kyjiws drohen und diese auch ausführen müssen. Dass dies nicht geschah, beweist, dass es eben nicht „einfach“ war und dass Putin das Kriegsziel des Sturzes der ukrainischen Regierung zugunsten der Eroberung der Südostukraine aufgab, wo er seine Truppen als nächstes konzentrierte.
Natürlich verkauft Putin das hinterher anders. Er kann schlecht sagen: „Ich wollte die ukrainische Regierung stürzen, aber das hat nicht so geklappt wie geplant, also habe ich meine militärischen Ressourcen anderen Prioritäten zugeordnet.“ Stattdessen sagte er sinngemäß: „Ich habe die Armee abgezogen, weil ich Frieden wollte, aber dann hat die Ukraine unsere Forderungen nicht wie versprochen erfüllt.“ Putin verschwieg, dass die entscheidende russische Forderung, die eine ukrainische Unterschrift unter einen Friedensvertrag unmöglich machte, erst nach dem Abzug der russischen Armee aus der Nordukraine gestellt wurde, somit kann es vor dem Abzug der russischen Armee kein ukrainisches Versprechen bezüglich dieser Forderung gegeben haben.
Putin kann keine Niederlage eingestehen, nicht einmal eine Teilniederlage in Form einer gescheiterten Mission. Er muss den Gegner verteufeln und sein eigenes Vorgehen glorifizieren. Das ist Standard in jedem Krieg und gehört zu den zehn Prinzipien der Kriegspropaganda.
Nach dem Rückzug aus der Region Kyjiw begann die russische Großoffensive im Donbas, wobei die russische Führung aus den Erfahrungen gelernt hatte und nun auf eine andere Taktik setzte:
Mitte April begann die Schlacht im Donbas. Keine verwegenen Panzerangriffe mehr, sagte Russland und ging dazu über, alles, was im Weg war, mit massiver Artilleriegewalt methodisch zu zerstören.
Popasna, Sjewjerodonezk, Rubischne, Lyssytschansk und viele andere Städte und Ortschaften im Donbas wurden in Betonhaufen verwandelt, so dass die russische Infanterie jeweils einige hundert Meter vorrücken konnte. Auf dem Höhepunkt der Schlacht, im Mai und Juni, hatte Russland fast 65% seiner Militärmacht [im Donbas] konzentriert.
Dennoch gab es auch weiterhin Rückschläge. Nachdem Putin im September 2022 per Dekret die südukrainische Provinzhauptstadt Cherson annektiert hatte, musste sich die russische Armee nur zwei Monate später wegen Nachschubproblemen wieder aus der Stadt zurückziehen.
Zensur
Feistel schreibt, Alexei Gorinow, ein Mitglied der oppositionellen russischen Solidarnost-Bewegung, wurde „nicht zu sieben Jahren Haft verurteilt, weil er von einem Krieg gesprochen hatte, sondern weil er erklärt hatte, in der Ukraine stürben jeden Tag Kinder aufgrund der Kämpfe“.
Tatsächlich sagte Gorinow: „[F]ast 100 Kinder sind bereits in der Ukraine gestorben, und jeden Tag werden weitere Kinder zu Waisen. […] Ich glaube, dass alle Bemühungen unserer Zivilgesellschaft ausschließlich darauf gerichtet sein sollten, den Krieg zu beenden und die russischen Truppen aus der Ukraine abzuziehen.“
Feistel schreibt, ein Gericht befand Gorinow für schuldig nach „Artikel 207.3 des Strafgesetzbuches, der die ‚öffentliche Verbreitung von wissentlich falschen Informationen über den Einsatz russischer Streitkräfte‘ unter Strafe stellt“. Feistel schreibt, es sei „faktisch falsch, dass es dabei um die Bezeichnung der ‚militärischen Sonderoperation‘ als ‚Krieg‘ gegangen sei“.
Tatsächlich ging es laut offiziellem Gerichtsurteil um „aufgezeichnete Aussagen […] mit wissentlich falschen Informationen […] über die Durchführung militärischer Angriffsaktionen durch die Russische Föderation auf dem Territorium eines anderen souveränen Staates, wobei diese nicht als spezielle Militäroperation, sondern als Krieg bezeichnet wurden, […] [und] über den täglichen Tod von Kindern auf dem Territorium der Ukraine infolge der Durchführung von Militäroperationen durch die Russische Föderation“.
Es ging also sowohl um die Bezeichnung des Krieges als Krieg als auch um Gorinows Aussage über getötete Kinder. Gorinow machte seine Aussage drei Wochen nach Beginn der russischen Großoffensive. Zu jener Zeit wurden laut UN-Angaben mehr als drei Kinder pro Tag getötet. Das bedeutet, Gorinow lag mit seinen Zahlen über durch den Krieg getötete Kinder richtig. Insofern war seine Verurteilung eine doppelte Realitätsverweigerung der russischen Justiz.
Feistel schreibt: „Was Stolle aber unerwähnt lässt, ist, dass das Urteil [gegen Gorinow] auch innerhalb Russlands für Kritik sorgte und Revision eingelegt wurde.“
In jedem Land der Welt – vielleicht mit Ausnahme von Nordkorea – würde ein solches Urteil für Kritik sorgen. Ich bitte um Verzeihung, dass ich in meinem Artikel nicht ausdrücklich erwähnt habe, dass Russland noch nicht auf dem Stand von Nordkorea ist.
Das Urteil gegen Gorinow wurde im Juli 2022 verkündet. Die Revision hielt ich nicht für erwähnenswert, da sie zwei Monate später abgelehnt wurde. Erwähnenswert erscheint mir vielmehr, dass Gorinow laut UN-Angaben unter folterähnlichen Bedingungen inhaftiert wurde:
Gorinow wurde nach wie vor unter Bedingungen inhaftiert, die Folter und Misshandlung gleichkommen, einschließlich einer langen Haft in einer Strafisolationszelle unter kalten und feuchten Bedingungen, was zu einer weiteren Verschlechterung seines Gesundheitszustands führte. Zwischen dem 7. September und dem 25. Oktober 2023 wurde er an 48 aufeinander folgenden Tagen in Einzelhaft gehalten.
Dieses Jahr wurde Gorinow wegen angeblicher Selbstmordgefahr unter Beobachtung gestellt. Gorinow schrieb dazu: „Da ich mich selbst zu sehr schätze, Sie alle schätze und das Leben als ein Geschenk des Universums betrachte, möchte ich allen versichern, dass ich mein Leben unter keinen Umständen freiwillig beenden werde. Außerdem habe ich noch viele wichtige Dinge zu erledigen und große Pläne. Bitte merken Sie sich das, falls mir plötzlich etwas passiert.“
Feistel schreibt, „dass das russische Recht schon immer sehr streng war, was nur dadurch ausgeglichen wurde, dass es eher selten überhaupt zur Anwendung kam“. Tatsächlich wurden allein im ersten Monat nach der russischen Großoffensive 15.000 russische Kriegsgegner wegen Meinungsverbrechen festgenommen, teilweise einfach nur dafür, dass sie „nein zum Krieg“ sagten. Wenn dies eine seltene Anwendung der Zensurgesetze ist, was wäre dann häufig?
Putin und ihm nahestehende Personen wie Sergei Karaganow haben inzwischen selbst von einem Krieg gesprochen. Man kann den Krieg also Krieg nennen, solange man ihn nicht kritisiert. Die offizielle Bezeichnung lautet jedoch nach wie vor „spezielle Militäroperation“.
Laut Feistel erlaube „die Einstufung als Sonderoperation der russischen Regierung, den Rest des Landes nicht in einen Ausnahmezustand zu überführen“. Heißt das, die 2022 verabschiedeten Zensurgesetze, mit denen Regierungskritiker verfolgt und inhaftiert werden, sind kein Ausnahmezustand, sondern Normalzustand?
Rassismus
Feistel schreibt: „Russland ist ein Vielvölkerstaat und vereint dabei eben viele Ethnien und Gruppen auf einem Staatsgebiet. […] Die Völker können in Russland ziemlich unbehelligt leben.“
Dagegen hatte ich in meinem Artikel bereits eingewandt, dass die Zwangsrekrutierung für den russischen Krieg gegen die Ukraine überproportional ethnische Minderheiten betrifft, was eindeutig rassistisch ist. Viele ländliche Gemeinschaften ethnischer Minderheiten wurden praktisch entvölkert. Die Zahl der russischen Todesopfer unter den ethnischen Minderheiten ist im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung weitaus höher als die Zahl der gefallenen Soldaten aus Moskau.
Feistel schreibt: „Dass auch auf der Seite Russlands Nazibataillone kämpfen, […] stimmt. Sie sind aber prozentual in einem geringeren Ausmaß beteiligt [als ukrainische Nazibataillone].“ Obwohl „prozentual“ wissenschaftlich fundiert klingt, gibt Feistel keine Quelle für diese Behauptung an.
In meinem Artikel berief ich mich auf eine Untersuchung des russischen Politologen Wjatscheslaw Lichatschow aus dem Jahr 2016, wonach „Russlands Einsatz von Rechtsradikalen auf der Seite der Separatisten in den [Donbas-]Provinzen Donezk und Luhansk größere militärische und politische Auswirkungen hatte als die Beteiligung rechtsextremer ukrainischer Gruppen“.
Lichatschow kann kaum als Verharmloser ukrainischer Neonazis bezeichnet werden. 2018 schrieb er: „Rechtsextreme politische Kräfte stellen eine echte Bedrohung für die demokratische Entwicklung der ukrainischen Gesellschaft dar. […] Ihre Aktivitäten stellen die Legitimität des Staates in Frage, untergraben seine demokratischen Institutionen und bringen die Strafverfolgungsbehörden des Landes in Misskredit.“
Feistel schreibt: „Was Stolle auch ignoriert, sind die zahlreichen Regionen außerhalb Russlands, in denen Russen leben. Dazu gehört die damalige Ostukraine ebenso wie die Krim.“
In der Langfassung meines Artikels schrieb ich: „1944 wurden [‥] [die Krimtartaren] zusammen mit anderen Nicht-Russen wie Armeniern, Griechen und Bulgaren im Rahmen eines sowjetischen Zwangsumsiedlungsprogramms vollständig von der Krim vertrieben. Seitdem waren die meisten Krimbewohner stets Russen.“ Zudem erwähnte ich, „dass die Bewohner der Separatistengebiete [in der Ostukraine] sich ethnisch und sprachlich eher als russisch denn als ukrainisch sahen“.
Feistel schreibt: „Zu behaupten, die ukrainischen Neonazis hätten ihre Überzeugungen abgelegt, nur weil angeblich auch einige Juden in diesen Bataillonen kämpfen, ist lächerliche westliche Propaganda.“ Tatsächlich habe ich nicht behauptet, dass auch nur ein einziger ukrainischer Neonazi seine Überzeugungen abgelegt hätte. Ich schrieb lediglich: „Die Ukraine hat jedoch daran gearbeitet, Neonazis und andere politische Extremisten aus ihren Streitkräften zu entfernen […].“ Als Beleg verwies ich auf eine Untersuchung des Schweizer Soziologen Andreas Wimmer.
In meinem Artikel habe ich erwähnt, dass die Ukraine 2019 ein Sprachengesetz verabschiedet hat, das die russische Sprache diskriminiert. In seiner Replik auf meinen Artikel erwähnt Feistel zusätzlich das Gesetz über nationale Minderheiten von 2022, in dem Russen nicht als nationale Minderheit in der Ukraine anerkannt werden.
Tatsächlich sind Gesetze, die Minderheiten diskriminieren, zu verurteilen. Bezeichnenderweise erwähnt Feistel jedoch nicht, dass Russland ähnliche Gesetze erlassen hat. 2016 setzte Putin seine Unterschrift unter das Yarovaya-Gesetz, das religiöse Minderheiten diskriminiert. 2018 folgte ein Sprachengesetz, das Minderheitensprachen herabstuft:
[Putin] betonte, dass die russische Sprache „nicht durch irgendetwas ersetzt werden kann“ und dass der Unterricht in den Sprachen der ethnischen Minderheiten optional sein wird. […]
Die ersten Kontrollen fanden in Baschkortostan und Tatarstan statt. Die Inspektoren entdeckten, dass in beiden Republiken Minderheitensprachen als Pflichtfach unterrichtet wurden. Daraufhin wurden massenhaft Lehrer entlassen […].
Einige der ersten Demonstrationen fanden in Baschkortostan statt, wo mehr als 2.000 Menschen auf dem Hauptplatz der Stadt Ufa demonstrierten, obwohl die örtlichen Behörden ihnen keine Genehmigung erteilt hatten. Als die Polizei versuchte, die Demonstration zu beenden, indem sie die führenden Aktivisten festnahm, verteidigten die Demonstranten sie aktiv. Dennoch wurden mehrere Personen von der Polizei festgenommen.
In der Zwischenzeit wurde den tatarischen Aktivisten mehrfach die Genehmigung für eine geplante Kundgebung in Kasan, der Hauptstadt der Republik Tatarstan, verweigert. Mehrere Aktivisten organisierten stattdessen einsame Ein-Personen-Mahnwachen – die einzige Möglichkeit, in Russland ohne vorherige Genehmigung der Behörden zu protestieren. Einige von ihnen wurden dennoch von der Polizei festgenommen.
Die russische Zersetzung der ukrainischen Kultur mit Unterstützung des russischen Instituts der GUS-Staaten ist seit den 1990ern belegt. Selbst das Lackieren der Fingernägel und das Tragen von Kleidung in den Farben der ukrainischen Flagge kann heute in Russland zu gerichtlichen Verurteilungen führen.
In den seit 2014 von Russland besetzten Gebieten der Ukraine findet eine fanatische Entukrainisierung und Russifizierung statt. Bei der Analyse diskriminierender Maßnahmen seitens der Ukraine muss dieser Kontext berücksichtigt werden.
Die russisch-orthodoxe Kirche hat offiziell verkündet: „Aus spiritueller und moralischer Sicht ist die spezielle Militäroperation ein heiliger Krieg, in dem Russland und sein Volk den einzigen spirituellen Raum des heiligen Russlands verteidigen.“ Der Milliardär, ehemalige KGB-Agent und Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, Kyrill I., sprach zudem von den Ukrainern als „Mächte des Bösen“. Das kürzlich erfolgte Verbot der russisch-orthodoxen Kirche in der Ukraine kann somit nicht allein als Diskriminierung der russischen Minderheit in der Ukraine gewertet werden.
Feistel schreibt: „Weiter schreibt Stolle, dass Russland die größte Bedrohung für Minderheiten in Europa sei.“ Tatsächlich schrieb ich, „dass Russland für ethnische Minderheiten in der Tat das gefährlichste Land in Europa ist“. Es ging nicht darum, dass Russland eine Bedrohung für Minderheiten in Europa darstellt, sondern dass es für Minderheiten in Russland gefährlicher ist als in jedem anderen Land in Europa.
Die Gefahr für Minderheiten in Russland belegte ich mit einer Studie, die rassistisch motivierte Morde und Gewaltverbrechen im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung analysiert. Daraus eine Gefahr für Minderheiten abzuleiten, erscheint Feistel „weit hergeholt“. Für die meisten Menschen dürfte ein erhöhtes Risiko, Opfer eines Gewaltverbrechens zu werden, jedoch durchaus als Gefahr gelten.
Feistel behauptet, ich hätte „Übergriffe von Zivilisten gegenüber Minderheiten als Beweis für den Rassismus des Staates angeführt, was eine unzulässige Vermischung darstellt“. Dies ist schlicht unwahr. In meinem Text steht nicht, dass rassistische Übergriffe von russischen Zivilisten Beweise für staatlichen Rassismus sind. Die Übergriffe beweisen, dass ethnische Minderheiten in Russland gefährlicher leben als in Ländern, in denen es im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung weniger rassistische Übergriffe auf Minderheiten gibt.
Russlands 9/11
Alexander Litwinenko legte in seinem Buch Blowing Up Russia Beweise dafür vor, dass der russische Geheimdienst FSB im Jahr 1999 Bombenanschläge auf Wohnhäuser in Russland verübt hatte, um einen Vorwand für den zweiten Tschetschenienkrieg zu schaffen. Einige Jahre später wurde er allem Anschein nach im Auftrag der russischen Regierung ermordet. Feistel schreibt, es sei „etwas Skepsis ob dieser Erzählung angebracht“, da es sich „bei Litwinenko um einen nach Großbritannien übergelaufenen ehemaligen Agenten“ handelte.
Tatsächlich erhöhte Litwinenkos Status als Überläufer die Wahrscheinlichkeit, vom FSB ermordet zu werden. Zusätzlich zum Motiv der Vergeltung für die Aufdeckung russischer Angriffe unter falscher Flagge gab es das Motiv, eine Zusammenarbeit Litwinenkos mit westlichen Geheimdiensten gegen die Interessen der russischen Regierung zu verhindern.
Feistel schreibt, „[a]ngesichts der anderen mysteriösen Todesfälle von Menschen, die ebenfalls dem FSB die Schuld [an den Bombenanschlägen] gaben, ist es jedoch durchaus denkbar“, dass Litwinenko vom FSB ermordet wurde. Neben den in meinem letzten Artikel erwähnten Boris Beresowski und Alexander Leked traf es auch die russischen Politiker Sergei Juschenkow und Juri Schtschekotschichin.
Juschenkow war Leiter der 2002 gegründeten Kowaljow-Kommission, die eine unabhängige Untersuchung der Bombenanschläge von 1999 durchführte. Er wurde im April 2003 vor seiner Wohnung erschossen. Schtschekotschichin war ebenfalls Mitglied der Kommission. Er wurde im Juli 2003 allem Anschein nach vergiftet. Ein weiteres Mitglied der Kommission, Michail Trepaschkin, wurde im Oktober 2003 unter fadenscheinigen Gründen verhaftet. Seine Verhaftung erfolgte eine Woche vor einem Gerichtstermin, bei dem er als Anwalt der Familie eines Opfers der Bombenanschläge die von ihm gesammelten Beweise für eine Täterschaft des FSB vorlegen wollte.
Tschetschenien
Feistel erklärt, dass „[v]om Westen aufgerüstete Dschihadisten“ die Absicht hatten, in Tschetschenien ein Kalifat zu errichten. Putin habe 1999 mit seinem Krieg gegen Tschetschenien beabsichtigt, „ein kollabierendes Staatengebilde zusammenzuhalten, um es nicht den westlichen Interessen ausliefern zu müssen“.
Warum kooperierte Putin zu diesem Zweck nicht mit der tschetschenischen Regierung? Präsident Aslan Maschadow hatte 1997 einen Friedensvertrag mit Russland unterzeichnet. Maschadow wollte die Dschihadisten loswerden. War es somit nicht naheliegend, Maschadow im Kampf gegen die Dschihadisten zu unterstützen und freundschaftliche Beziehungen zwischen Tschetschenien und Russland zu fördern? Stattdessen führte Putin einen Krieg gegen Maschadows Regierung, dem Zehntausende Zivilisten zum Opfer fielen.
Infolge des Krieges wurde Ramsan Kadyrow auf Putins Vorschlag als tscheschenischer Präsident eingesetzt. Seine autokratische Herrschaft seit 2007 ist durch Kriegsverbrechen, Menschenrechtsverletzungen und seinen opulenten Lebensstil gekennzeichnet. Seine persönliche Miliz, die Kadyrowzy, wurde mit der Ermordung mehrerer russischer Oppositioneller in Verbindung gebracht, darunter Anna Politkowskaja, Natalja Estemirowa und Boris Nemzow. Den mutmaßlichen Mörder Nemzows, Saur Dadajew, bezeichnete Kadyrow als wahren Patrioten. Sowohl Dadajew als auch seine Komplizen hatten Verbindungen zu Kadyrows Machtapparat.
Für Putin ist das tyrannische Kadyrow-Regime ein politischer Segen. Bei den diesjährigen russischen Präsidentschaftswahlen entfielen 99% der Stimmen in Tschetschenien auf Putin, bei einer angeblichen Wahlbeteiligung von 97%. Nur in Nordkorea sind Wahlergebnisse noch deutlicher.
Georgien
Feistel schreibt, die Unabhängigkeitskriege in Abchasien und Südossetien dauerten zwei Jahre, „bis Russland einschritt und sie beendete“. Tatsächlich erhielten Abchasien und Südossetien frühzeitig Unterstützung aus Russland, nur so konnten sie der georgischen Zentralregierung zwei Jahre lang die Stirn bieten. Interessanterweise leistete Russland aber auch Georgien militärische Hilfe und goss damit auf beiden Seiten Öl ins Feuer.
Das Ergebnis waren mehr Tote, mehr Zerstörung und mehr Kriegsverbrechen auf beiden Seiten. Zudem vergrößerte Russland damit seinen Einfluss sowohl auf die georgische Zentralregierung als auch auf Abchasien und Südossetien.
Als das georgische Militär 2008 versuchte, Abchasien und Südossetien militärisch wieder unter seine Kontrolle zu bringen, drangen russische Truppen weit auf georgisches Territorium vor. Feistel schreibt: „Der Schritt wird vom Europarat als völkerrechtskonform, aber überzogen eingestuft.“
Tatsächlich stufte der Europarat den georgischen Versuch der militärischen Rückeroberung der Separatistenregionen ebenso wie die darauf folgende russische Invasion Georgiens und die russische Anerkennung der Separatistenregionen als völkerrechtswidrig ein:
[D]er russische Gegenangriff, einschließlich groß angelegter Militäraktionen in Zentral- und Westgeorgien und in Abchasien, verstieß ebenfalls gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und das humanitäre Völkerrecht[.] […] In dieser Hinsicht ist die Versammlung der Auffassung, dass das Konzept vom „Schutz von Bürgern im Ausland“ aus völkerrechtlicher Sicht nicht akzeptabel ist[.] […] Die Versammlung verurteilt die Anerkennung der Unabhängigkeit Südossetiens und Abchasiens durch Russland als einen Verstoß gegen das Völkerrecht […].
Zudem verurteilte der Europarat Russland für Menschenrechtsverletzungen und ethnische Säuberungen:
Die Versammlung verurteilt Russland und die De-facto-Behörden Südossetiens dafür, dass sie die ethnische Säuberung von ethnischen Georgiern, die allem Anschein nach während und nach dem Krieg in Südossetien stattgefunden hat, nicht entschlossen gestoppt und ernsthaft untersucht haben und dass sie die Täter nicht vor Gericht gestellt haben. Sie erinnert daran, dass Russland nach dem Völkerrecht die Verantwortung für Verstöße gegen die Menschenrechte und das humanitäre Recht in den Gebieten trägt, die de facto unter seiner Kontrolle stehen.
Viele verwechseln den Europarat mit dem Rat der Europäischen Union, doch auch dieser verurteilte das russische Vorgehen als völkerrechtswidrig. Im Bericht der offiziellen Untersuchungskommission heißt es: „Die russische Militäraktion in Georgien verstieß gegen das Völkerrecht, während die georgischen Streitkräfte in legitimer Selbstverteidigung gemäß Artikel 51 der UN-Charta handelten.“
Feistel schreibt: „Die georgische Regierung hat erst vor Kurzem die Umstände des Krieges neu untersuchen lassen und kam dabei zu dem Ergebnis, dass Saakaschwili den Krieg auf Anweisung des Westens vom Zaun gebrochen habe.“
Als Beleg zitiert Feistel eine Meldung der russischen Nachrichtenagentur TASS. Laut dieser Meldung war es jedoch umgekehrt. Zuerst kam die „Erklärung des politischen Rates der Regierungspartei“, wonach der Krieg „das Resultat von Anweisungen aus dem Ausland“ war. Danach kündigte der Premierminister an, „die Regierung werde sich an die Staatsanwaltschaft, das Verfassungsgericht oder eine parlamentarische Kommission wenden, um die Umstände des Krieges von 2008 aufzuklären“.
Die Regierungspartei betonte, „dass es für die Schaffung von langfristigem Frieden und Stabilität im Land von entscheidender Bedeutung ist, einen öffentlichen Gerichtsprozess zu organisieren“. Somit gab es bisher lediglich eine Vorverurteilung, auf die offenbar ein Schauprozess folgen soll. Aktuell ist Saakaschwili im Gefängnis, wo er mutmaßlich misshandelt, vergiftet und mit Psychopharmaka zwangsmedikamentiert wird.
Feistel schreibt: „Die georgische Regierung steht […] nicht im Verdacht, besonders russlandfreundlich zu sein […].“ Dennoch entspricht die Erklärung des politischen Rates der Regierungspartei zu Saakaschwili exakt dem Narrativ der russischen Regierung.
Bidsina Iwanischwili, ehemaliger Premierminister, Gründer und graue Eminenz der seit 2012 regierenden Partei Georgischer Traum, hat sein Milliardenvermögen in Russland gemacht und die russische Invasion der Ukraine nie kritisiert.
Vor kurzem verabschiedete die georgische Regierung ein Gesetz zur Registrierung vermeintlicher ausländischer Agenten. Zehntausende demonstrierten in den Straßen von Tiflis gegen das „russische Gesetz“.
Russland hatte 2012 ein ähnliches Gesetz verabschiedet, das mehrfach verschärft wurde und aktuell Organisationen und Personen betrifft, die Geld aus dem Ausland erhielten oder vom Ausland beeinflusst werden, wobei diese Formulierung viel Interpretationsspielraum lässt. Selbst der Erhalt kleinster Spenden, Honorare oder Preisgelder führt zu einer Registrierungspflicht, hohen bürokratischen Auflagen und saftigen Strafzahlungen im Falle von Formfehlern oder Versäumnissen.
Die Regierungen Russlands und Georgiens behaupten unisono, das georgische Gesetz würde sich an den USA orientieren. Tatsächlich betrifft das US-Gesetz zur Registrierung ausländischer Agenten jedoch in erster Linie Vertreter ausländischer Regierungen, wohingegen die Gesetze in Russland und Georgien vorrangig Journalisten, Künstler, Menschenrechtler, Medienunternehmen und gemeinnützige Organisationen betreffen.
Entführungen und Pädokriminalität
Feistel schreibt: „Am Ende bleibt noch die Erzählung von der Entführung ukrainischer Kinder nach Russland. Die russische Regierung hält hier entgegen, dass es sich um eine Evakuierung handele statt um Entführungen. Und das ist etwas, worüber man zumindest mal nachdenken könnte.“
Wenn jemand aus einem Kriegsgebiet gebracht wird, handelt es sich selbstverständlich um eine Evakuierung. Wenn man aber gegen seinen Willen ins Ausland evakuiert wird, ist die Evakuierung auch eine Entführung.
Feistel verweist auf einen Artikel von Thomas Röper, der behauptet: „Von Entführungen kann keine Rede sein, denn Russland hat die Kinder aus dem Kriegsgebiet in sicherere Regionen evakuiert und übergibt sie problemlos an ihre ukrainischen Erziehungsberechtigten, wenn die sich melden.“
Die OSZE berichtete jedoch: „[D]ie Russische Föderation unternimmt keine Schritte, um die Rückkehr ukrainischer Kinder aktiv zu fördern. Vielmehr schafft sie verschiedene Hindernisse für Familien, die ihre Kinder zurückholen wollen.“ So sind Fälle bekannt, in denen ukrainische Kinder ohne Wissen oder Zustimmung ihrer Eltern in Russland zur Adoption freigegeben wurden, nachdem sie neue Geburtsurkunden erhalten hatten, die ihren Geburtsort nach Russland verlegen.
Es sind unzählige Fälle belegt, in denen ukrainische Kinder gegen ihren Willen und ohne das Einverständnis ihrer Eltern oder Betreuer nach Russland entführt wurden. Einigen wurde ein Urlaub in einem Ferienlager auf der Krim versprochen, aus dem sie nicht wie versprochen zurückgebracht wurden. Andere wurden in sogenannten Filtrationslagern in den russisch besetzten Gebieten gegen ihren Willen von ihren Eltern getrennt und nach Russland verschleppt.
Es gibt Berichte über Menschenrechtsverletzungen in russischen Filtrationslagern, darunter Folter, Vergewaltigungen, und Hinrichtungen. Satellitenbilder zeigen Massengräber in unmittelbarer Nähe der Lager.
Die nach Russland entführten Kinder werden einer Indoktrination unterzogen, die man als Gehirnwäsche bezeichnen kann:
Der Unterricht fand auf Russisch statt. Die Kinder mussten […] die russische Nationalhymne singen. Man zeigte ihnen russische Filme, lehrte sie russische Geschichte und sagte ihnen, sie sollten ihre ukrainische Nationalität vergessen. […]
Die Indoktrination umfasste eine ständige Wiederholung der russischen Linie und eine Mischung aus Versprechungen und Panikmache. Den Kindern wurde gesagt, dass sie in der Ukraine mit Repressalien rechnen müssten […], dass ohnehin alles bombardiert und zerstört sei und dass ihre Eltern sie nicht wollten. […]
[M]ilitärlager in Russland und der besetzten Ostukraine haben sich als Teil einer schleichenden Militarisierung der russischen Gesellschaft unter Herrn Putin ausgebreitet, wie Analysten sagen.
In den Lagern tragen ukrainische Kinder Uniformen und durchlaufen eine halbmilitärische Ausbildung, was die Befürchtung aufkommen ließ, Russland wolle sie als Fußsoldaten in der Ukraine einsetzen.
Im von Feistel verlinkten Artikel schreibt Röper außerdem: „Die Vorwürfe, dass Kinder illegal nach Russland entführt wurden, kommen aus der Ukraine und sind nie von neutralen Stellen dokumentiert worden.“
Leider lädt die russische Armee keine neutralen Stellen zu den Entführungen ein, was die Dokumentation durch neutrale Stellen erschwert. In Bezug auf die Filtrationslager erklärte die UN: „Unabhängige Stellen durften die Filtrationslager nicht besuchen.“
Die Entführungen von Kindern nach Russland sind von den Betroffenen selbst dokumentiert. Zahllose Einzelschicksale sind bekannt. Die Rückführung der Kinder in die Ukraine erfolgt – wenn überhaupt – unter großen Schwierigkeiten und oft mit Unterstützung von Hilfsorganisationen.
Wie in Kriegszeiten nicht anders zu erwarten, gibt es auch Berichte über Menschenrechtsverletzungen durch das ukrainische Militär, die jedoch das russische Vorgehen in Bezug auf Kindesentführungen und Filtrationslager nicht rechtfertigen, entschuldigen oder relativieren.
Feistel schreibt: „[E]s [gibt] Vorwürfe gegenüber westlichen und ukrainischen Politikern [‥], Kinder in der Ukraine zu entführen und mittels Kinderhändler-Netzwerken an Pädophilen-Netzwerke zu verkaufen. Beteiligt sein soll auch die Stiftung von Selenskyjs Frau.“
Dies weckt Erinnerungen an Berichte über die Entführung haitianischer Kinder durch eine Wohltätigkeitsorganisation mit Verbindungen zu den Clintons nach dem schweren Erdbeben in Haiti im Jahr 2010.
Zu den Vorwürfen gegen die Stiftung von Selenskyjs Frau zitiert Feistel eine Untersuchung einer russischen Menschenrechtsorganisation. Diese berichtet außerdem von der „Ermordung ukrainischer Kinder in Großbritannien“.
Dies ist nicht der erste Skandal dieser Art in Großbritannien. In den 1960ern und 1970ern waren mehrere Kinder in Nordirland betroffen. Dabei gab es Hinweise auf ein Pädophilen-Netzwerk, das unter anderem im Kincora-Kinderheim operierte. Der Pädophile William McGrath war langjähriger Heimleiter in Kincora. Er war außerdem Anführer der paramilitärischen Gruppe Tara und arbeitete für den britischen Geheimdienst.
Nachdem die Behörden trotz Beschwerden von Kindern und Sozialarbeitern jahrelang untätig geblieben waren, brachte ein Artikel von Peter McKenna aus dem Jahr 1980 Bewegung in den Fall. Kurz nach Erscheinen des Artikels wurde McGrath zusammen mit zwei weiteren Kincora-Angestellten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern angeklagt. Sie wurden 1981 zu Haftstrafen zwischen vier und sechs Jahren verurteilt. Trotz zahlreicher Zeugenaussagen wurden weitere prominente Täter nicht angeklagt. Zudem gab es viele verdächtige Todesfälle von Zeugen, darunter Willie Mullan, Joshua Cardwell, John McKeague und Robert Bradford.
Im Laufe der Jahre haben sich mehrere ehemalige Bewohner von Kincora wie Richard Kerr, Gary Hoy, Clint Massey und Arthur Smyth öffentlich geäußert. Sie berichteten, dass sie prominenten Personen in ganz Großbritannien zugeführt wurden, zum Beispiel im Elm Guest House in London und am Dolphin Square, einem luxuriösen Apartmentkomplex in der Nähe des britischen Parlaments. Sie identifizierten unter anderem den Direktor des britischen Auslandsgeheimdienstes MI6, Sir Maurice Oldfield, den stellvertretenden Direktor des MI6, Sir Peter Hayman, den britisch-sowjetischen Doppelagenten Sir Anthony Blunt sowie weitere Politiker, Geschäftsleute und Prominente.
2015 produzierte der australische Sender Nine Network eine Reportage mit dem Titel „Spies, Lords, and Predators“. Darin geht es um die Aussagen von Richard Kerr sowie weitere Fälle von Kindersexhandel mit prominenten Tätern, insbesondere in Großbritannien. Interessanterweise haben die Establishmentmedien nicht weiter darüber berichtet. Die Reportage ist in den Online-Archiven von Nine Network nicht verfügbar, wurde aber auf zahllosen alternativen Kanälen und Websites neu hochgeladen.
Ich produzierte 2022 einen deutschsprachigen Film über rituelle Gewalt an Kindern mit dem Titel „Satanismus und Kindesmissbrauch in der High Society“. Dieser Film enthält ebenfalls Informationen über Pädophilen-Netzwerke mit Verbindungen zu westlichen Geheimdiensten. Nach einem Monat und 10.000 Aufrufen – was für meinen Kanal mit weniger als 1.000 Abonnenten beachtlich war – sperrte YouTube den Film. Der Vorwurf lautete Belästigung und Mobbing. Ich legte Widerspruch ein, den YouTube ohne Begründung zurückwies. Der Film ist jedoch weiterhin auf Odysee, Bitchute und Rumble zu finden, wo er die Aufmerksamkeit einer Schweizer Überlebenden von ritueller Gewalt erregte, die unter dem Pseudonym Chantal Frei bekannt ist.
Damals hatte Frei gerade ihr erstes Buch Ich rede! veröffentlicht, in dem sie ihre Erinnerungen an rituelle Gewalt während ihrer Kindheit schildert. Auch sie wurde prominenten Tätern zugeführt. In ihren ersten Videointerviews verdeckte Frei auf Wunsch ihrer Kinder ihr Gesicht. Sie wollten von ihren Freunden nicht als Kinder einer Überlebenden von ritueller Gewalt erkannt werden. Dennoch wuchs in Frei der Wunsch, sich nicht für den Rest ihres Lebens zu verstecken. Sie plante, sich auf einer kleinen Buchmesse in Hessen erstmals öffentlich zu zeigen, und bat mich, sie zum Schutz und zur moralischen Unterstützung zu begleiten. Nachdem ich online mehrere Gespräche mit ihr geführt hatte, sagte ich zu.
2023 veröffentlichte Chantal Frei die bahnbrechende Dokumentarserie „50 Voices of Ritual Abuse“, die ich als Mitglied des Produktionsteams unterstützte. Die Idee war, die Existenz von ritueller Gewalt zu beweisen, indem Dutzende von Überlebenden aus aller Welt ihre Geschichten erzählen. Dann kann das Publikum entscheiden: Sind diese 50 Personen Lügner und Spinner? Oder deuten ihre Aussagen darauf hin, dass es Netzwerke gibt, die rituelle Gewalt an Kindern praktizieren und die in Ländern auf der ganzen Welt ähnlich funktionieren?
Die Überlebenden von „50 Voices“ kommen aus Westeuropa, Nordamerika, Australien und Ozeanien. Alle haben in ihrer Kindheit Folter und Vergewaltigung erlebt. In vielen Fällen war die Folter so schwer, dass sie zu einer dissoziativen Identitätsstörung führte, was bedeutet, dass die Erinnerungen über Jahre oder sogar Jahrzehnte verdrängt waren. Etwa die Hälfte der Betroffenen erlebte rituelle Gewalt in einem satanistischen Kontext und wurde gezwungen, Menschenfleisch zu essen. Viele wurden gezwungen, andere Kinder zu quälen oder sogar zu töten. Mehrere wurden prominenten Tätern zugeführt und einige waren in Programme des Militärs und der Geheimdienste verwickelt, darunter Rachel Vaughan, Anneke Lucas und Max Lowen.
Viele Überlebende berichten, dass ihre Familien seit Generationen rituelle Gewalt praktizieren. Dies sollte nicht überraschen, da Kindesmissbrauch und Menschenopfer in Zivilisationen auf der ganzen Welt seit Urzeiten durchgeführt wurden. Rituelle Gewalt ist kein neues Phänomen. Sie wurde nie aufgegeben, sondern in okkulten Netzwerken verborgen und in den höchsten Rängen des tiefen Staates mit wissenschaftlicher Akribie perfektioniert.
Russland ist dabei keine Ausnahme, wie Jeffrey Nyquist offenlegte:
Ein auf Sowjetrussland spezialisierter Forscher hat Behauptungen aufgedeckt, dass der ehemalige [KGB-Chef und] Generalsekretär [der Kommunistischen Partei] Juri Andropow […] Netzwerke für Kinderhandel und Pädophilie [geschaffen hat], um Wirtschaftsführer und Politiker zu erpressen.
Jeffrey Nyquist hat bei seinen Nachforschungen über kommunistische Regime Einzelheiten über das Programm aufgedeckt […]. Seine Hauptquelle ist der Enkel eines ehemaligen Mitglieds des sowjetischen Zentralkomitees, der sich dem Programm widersetzte und möglicherweise aufgrund seines Widerstands getötet wurde. Zwei weitere Quellen waren Überläufer aus der Sowjetunion, die Informationen über sowjetische Experimente zu Pädophilie und sexueller Perversion offenlegten.
Alle drei baten darum, ihre Identität nicht preiszugeben, da sie der Meinung sind, dass dieser Missbrauch fortbesteht und eine Offenlegung ihr Leben gefährden würde. […]
„Dieser Großvater erzählte seiner Familie: ‚Andropow baut Netzwerke für Kinderhandel und Pädophilie auf, und das ist ein Projekt, das der KGB auf internationaler Ebene, auf der ganzen Welt, begonnen hat‘“, sagte Nyquist. […]
[Nyquist sagte:] „[E]iner der Vorteile einer schrecklichen Methode ist, dass niemand glaubt, dass jemand so etwas tun würde.“ […] [D]ie Opfer zu einem Ritualmord zu zwingen und jeden zu töten, der sich weigert, daran teilzunehmen, würde auch als Kontrollmechanismus über alle Beteiligten funktionieren, da sie alle schuldig wären […].
Im Juli 2006 veröffentlichte der bereits zuvor erwähnte ehemalige russische Geheimagent Alexander Litwinenko einen Artikel, in dem er Putin der Pädophilie bezichtigte:
Kurz vor seinem Abschluss [am Andropow-Institut] erfuhren seine Vorgesetzten, dass Putin ein Pädophiler war. Das sagen einige Leute, die Putin als Student am Institut kannten. […]
[A]ls Putin FSB-Direktor wurde und sich auf die Präsidentschaft vorbereitete, begann er, kompromittierendes Material zu suchen und zu vernichten, das die Geheimdienste in früheren Jahren gegen ihn gesammelt hatten. […] Unter anderem fand Putin in der Direktion für Innere Sicherheit des FSB Videobänder, die ihn beim Sex mit einigen minderjährigen Jungen zeigten.
Interessanterweise wurde das Video in derselben konspirativen Wohnung in der Poljanka-Straße in Moskau aufgenommen, in der auch der russische Generalstaatsanwalt Juri Skuratow heimlich mit zwei Prostituierten gefilmt wurde. Später, in dem berühmten Skandal, erpresste Putin […] Skuratow mit diesen Bändern[.] […] Putin erwähnte gegenüber Skuratow, dass er selbst auch heimlich beim Sex in demselben Bett gefilmt wurde. […] Skuratow schrieb darüber in seinem Buch Variant Drakona […].
Vier Monate nach Erscheinen dieses Artikels wurde Litwinenko vergiftet.
NATO
Feistel schreibt: „Vom Donbas aus ist Moskau binnen eines Tages zu erreichen. Stationierte die NATO dort Mittelstreckenraketen, wäre eine Vorwarnzeit für den Beschuss Moskaus vernachlässigbar.“
Ein Blick auf die Landkarte zeigt, dass die baltischen Staaten, die seit 2004 der NATO angehören, Moskau näher sind als der Donbas. Nur die Nordukraine, deren Eroberung für Russland keine Priorität hatte, ist Moskau näher als das Baltikum.
Bei einer Stationierung von Mittelstreckenraketen mit einer Geschwindigkeit von 4 km/s (Mach 12 bis 14) direkt an der Grenze würde dies eine Vorwarnzeit von zweieinhalb Minuten bei Angriffen aus dem Baltikum und von zwei Minuten bei Angriffen aus der Nordukraine bedeuten.
Aufgrund der russischen Aggression gegen die Ukraine traten Finnland und Schweden 2023 der NATO bei. Dadurch verlängerte sich die Grenze zwischen Russland und der NATO auf einen Schlag um über 1.000 km. Vom Baltikum und Finnland sind es nur ca. 150 km bis Sankt Petersburg, was bei einem Angriff mit Mittelstreckenraketen eine Vorwarnzeit von einer halben Minute bedeuten würde.
Fazit
In der Mitte seines Artikels schreibt Feistel: „Stolle weist die Schuld für die Eskalation des Konflikts in der Ukraine allein Russland zu […].“ Damit widerspricht Feistel dem, was er eingangs schreibt: „Christian Stolle […] stellt unhaltbare Behauptungen auf, die ihn zu dem Schluss gelangen lassen, beide Seiten trügen in etwa die gleiche Schuld […].“
Tatsächlich schrieb ich: „Zusammenfassed ist festzustellen, dass ukrainische, russische und westliche Politiker gemeinsam für den Krieg in der Ukraine verantwortlich sind. Die postrevolutionären ukrainischen Regierungen kamen durch einen Anschlag unter falscher Flagge an die Macht und lehnten Separatismus selbst dort ab, wo er eindeutig den Willen des Volkes zum Ausdruck brachte, nämlich auf der Krim. Die russisch geführten militanten Separatisten im Donbas agierten gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung, die sie angeblich befreien wollten. Die russische Armee ist wiederholt unrechtmäßig in die Ukraine eingedrungen und hat den Krieg im Donbas mehrfach auf Seiten der Separatisten eskaliert. Damit hat die russische Regierung ihre Bereitschaft demonstriert, die Aufspaltung der Ukraine mit aller Gewalt zu erzwingen. Dennoch plante die ukrainische Regierung konsequent die militärische Rückeroberung der russisch kontrollierten Gebiete. Die westliche Korporatokratie bestärkte die Ukraine in diesem Kurs und provozierte damit sehenden Auges die russische Großoffensive im Jahr 2022, womöglich um wirtschaftlich und politisch vom Krieg zu profitieren.“
Meine Kritik an Putin und der russischen Regierung darf nicht als Gutheißung der NATO oder der Regierungen des Westens oder der Ukraine missverstanden werden. In meinem Buch Generation Mensch kritisiere ich auf 580 Seiten vor allem den Westen und die NATO, weil sie, wenn auch nicht in der Ukraine, so doch weltweit die meisten großen Kriege der jüngeren Geschichte vom Zaun gebrochen haben.
Der Grund, warum ich in diesem und in meinem letzten Artikel vorwiegend die russische Regierung kritisiere, ist, weil Russland in der Ukraine trotz aller Mitschuld des Westens und der Ukraine der Hauptaggressor ist und weil die Verbrechen der russischen Regierung in den alternativen Medien allzu oft ignoriert, verharmlost oder entschuldigt werden, nicht selten unter Berufung auf nachweisliche Falschinformationen.
Der Konflikt zwischen der russischen Regierung und der NATO ist ein Konflikt zwischen zwei kriminellen Banden. Ich will, dass jeder Mensch in Freiheit leben kann, ohne von einer kriminellen Bande behelligt zu werden. Deshalb decke ich Lügen und Verbrechen krimineller Regierungen auf, egal um welche Regierung es sich handelt oder welcher zwischenstaatlichen Allianz sie angehört. Ich finde es schade, dass dies für Journalisten in den alternativen Medien, die sich als regierungskritisch geben und zu Recht die Einseitigkeit der Establishmentmedien anprangern, nicht selbstverständlich ist, wenn es um Lügen und Verbrechen der russischen Regierung geht.
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Generation Mensch (2019, 580 Seiten, 24,90€)